Armenien: Das letzte christliche Bollwerk zwischen islamischen Ländern
Wenn man über Armenien spricht, ist es unmöglich, den 24. April nicht zu erwähnen, den Gedenktag für den Völkermord an den Armeniern, der mit der Razzia der armenischen Intellektuellen 1915 in Konstantinopel begann. Der 24. April ist ein Feiertag in Armenien sowie Berg-Karabach und wird auch von der armenischen Diaspora weltweit zum Anlass für Gedenkfeiern genommen. Auch die Tragweite des Titels dieses Artikels kann man nicht erfassen, ohne die Geschichte Armeniens zu kennen, von der hier einige Punkte in aller Kürze dargelegt werden sollen.
Armenien ist die erste christliche und eine der ältesten Nationen der Welt. Das Land hat nur drei Millionen Einwohner, von denen sich 97 Prozent als Christen bezeichnen. Armenien, das keinen Zugang zum Meer hat, verfügt praktisch über keine wertvollen natürlichen Ressourcen und keine militärische Unterstützung von aussen. Und doch ist es heute das letzte Bollwerk gegen die Entstehung eines neuen Giganten, der das geopolitische Gleichgewicht der Welt erschüttern könnte. Die ehemaligen Sowjetrepubliken scheinen auf der internationalen Bühne noch relativ wenig Gewicht zu haben. Doch es kommt zu Annäherungen, und zwar aus mehreren Blickwinkeln. Ein Beispiel ist die Organisation der Turkstaaten. In wirtschaftlicher, kultureller und energiepolitischer Hinsicht vereint sie mehrere Nationen, die der gleichen Sprachgruppe wie das Türkische angehören. Ihr Brückenkopf ist die Türkei, die ideal an der Kreuzung von Europa, Asien und dem Nahen Osten liegt, und ihr Territorium weist eine langjährige Kontinuität auf. Perfekt, ausser …
Der Stein im Schuh heisst Armenien
Als winziges Stück Land, das daran erinnert, dass dieses Land einst eine der Wiegen des Christentums war, trennt Armenien die Türkei im Westen (84 Millionen Einwohner, davon 99 % Muslime) und einen Block von 74 Millionen Einwohnern im Osten, der sich aus Aserbaidschan (97 % Muslime), Kasachstan (70 %), Kirgisistan (80 %), Usbekistan (90 %) und Turkmenistan (90 %) zusammensetzt. Ohne das armenische Hindernis würde diese grosse islamische Allianz, deren Fläche dann die der Europäischen Union übersteigen würde, de facto einen neuen zusammenhängenden Block bilden, der von Europa bis nach China reichen würde. Als Signal für seine kaum verhüllten Absichten erfolgte der Startschuss für diese Allianz 2009 in der Region Nachitschewan, einer Region mit historischer Bedeutung: Früher war sie zu 50 Prozent von Armeniern bewohnt. Unter Stalin wurde sie Aserbaidschan geschenkt und alle christlichen Spuren vollständig beseitigt. Armenien ist das Bindeglied – oder die Trennungsstelle – zwischen diesen beiden Blöcken. Zu seinem Unglück sind seine beiden unmittelbaren Nachbarn einerseits die Türkei, die sich des Völkermords schuldig gemacht hat, bei dem 1915 bis 1917 zwei Drittel der armenischen Bevölkerung des Osmanischen Reichs ums Leben kamen, und andererseits Aserbaidschan, eine reiche Petrodiktatur, deren Gasvorkommen für die Europäischen Union von besonderem Interesse ist, der es in diesem Winter nicht an Heizmaterial fehlen sollte.
Der Schmetterlingseffekt
Folglich versucht sich Aserbaidschan, unterstützt von seiner grossen türkischen Schwester, Stück für Stück von dem, was von diesem sperrigen armenischen Territorium noch übriggeblieben ist, einzuverleiben. Das erste davon ist Berg-Karabach (auf Armenisch Artsach genannt). Im Herbst 2020 waren es 70 Prozent dieser umkämpften Region, die den Armeniern geraubt wurden. Am 13. September 2022 ermöglichte eine Blitzoffensive den aserbaidschanischen Truppen, weitere 150 Quadratkilometer des souveränen Territoriums der Republik Armenien zu besetzen. Im Dezember 2022 schnitt eine aserbaidschanische Blockade auf der einzigen Strasse, die Armenien mit dem übriggebliebenen Teil von Artsach verbindet, den dort lebenden 120’000 Armeniern die Versorgung mit Nahrungsmitteln, Medikamenten und Energie ab. Währenddessen kommen die russischen „Friedenshüter“, die seit einem Abkommen aus dem Jahr 2020 mit dem Frieden in der Region betraut sind, dieser Aufgabe nicht nach. Das armenische Territorium könnte unbedeutend erscheinen. Und doch ist es entscheidend. Die Welt sollte den „Schmetterlingseffekt“ nicht unterschätzen, der sich in diesem Moment in diesen fernen Bergen des Kaukasus abspielen und von dort her ausbreiten könnte.