Am 2. April wird jährlich der Welt-Autismus-Tag begangen. Anita Rohrer-Michlig ist Autismus-Coach und Maltherapeutin. Als selbst Betroffene und Mutter zweier Kinder im Autismus-Spektrum ist es ihr ein Herzensanliegen, sowohl über Autismus aufzuklären als auch Betroffenen Hilfe zu bieten. Im Interview mit Ursula Baumgartner von Zukunft CH erläutert sie verschiedene Aspekte rund um das Thema Autismus.
Zukunft CH: Der Begriff „Autismus“ oder „Autismus-Spektrum“ ist zwar vielen Menschen bekannt. Doch die wenigsten wissen, was Autismus eigentlich ist. Können Sie die Begriffe genauer erklären?
Rohrer-Michlig: Es gibt verschiedene Definitionen von Autismus, die teils sehr kontrovers diskutiert werden. Ursprünglich geht die Diagnose auf Leo Kanner und Hans Asperger zurück, welche in den 1940er-Jahren unabhängig voneinander auffällig zurückgezogene und einzelgängerische Kinder als „autistisch“ beschrieben. Aus ihren Beobachtungen gingen drei Kernbereiche von Funktionsstörungen hervor: a) Beeinträchtigung der sozialen Interaktion und zwischenmenschlichen Beziehungen, b) Beeinträchtigung der (verbalen) Kommunikation und c) ein eingeschränktes Repertoire an Interessen und Aktivitäten, verbunden mit repetitiven oder stereotypen Verhaltensweisen. Das sind rein äusserliche Beobachtungen, auf denen heute noch die ganze Diagnostik aufbaut. Die Forschung ist zwar unterdessen ein Stück weiter, aber sie steckt immer noch in den Kinderschuhen. Tatsächlich hat die Wissenschaft bis heute beispielsweise noch keinen Biomarker für Autismus gefunden.
Gehirnstrommessungen zeigen zwar, dass Menschen im Autismus-Spektrum Reize anders verarbeiten als neurotypische Menschen. Insgesamt aber stützt sich die Diagnose in den meisten Fällen auf Fragebogen ab, die auf rein äusserlichen, teils sehr subjektiven Beobachtungen beruhen und die in aller Regel auf die männliche Ausprägung ausgerichtet sind. Man weiss heute, dass sich das Autismus-Spektrum bei Jungen und Männern anders ausprägt als bei Mädchen und Frauen. Zudem weiss man auch, dass Autismus eine genetische Komponente beinhalten muss, denn die Diagnose kommt oft gehäuft in Familien vor. Hinzu kommt, dass die Diagnose Autismus-Spektrum-Störung mit Diagnosen wie AD(H)S, Hochsensitivität, Hochbegabung, Posttraumatische Belastungsstörung etc. sehr viele Überschneidungen hat.
Zukunft CH: Ist es richtig, beim Autismus-Spektrum von einer Störung zu sprechen?
Rohrer-Michlig: Bislang wurde das Autismus-Spektrum als Störung betrachtet, die behandelt werden muss. Grundsätzlich ist es ja auch so, dass eine Diagnose in der Regel dann gebraucht wird, wenn jemand unter etwas leidet. Ansonsten geht man wohl kaum zum Arzt. Als Selbstbetroffene und Mutter zweier Kinder im Autismus-Spektrum weiss ich heute aber auch, dass es eine grosse Dunkelziffer von Betroffenen geben muss, die mitunter ein Leben lang gar nie diagnostiziert werden, weil sie für sich Strategien und Wege finden, mit dieser Veranlagung umzugehen. In diesen Fällen können wir also kaum mehr von einer Störung reden. Wenn Autismus allerdings tatsächlich eine Entwicklungsstörung wäre, müsste diese gemäss Darwins Gesetz ja ausgerottet werden. Die aktuellen Zahlen belegen jedoch das Gegenteil. In den vergangenen Jahren hat die Zahl der Diagnosen stark zugenommen. Angesichts all dieser Tatsachen, aber eben auch aufgrund meiner persönlichen Erfahrung vertrete ich heute eine völlig andere Ansicht.
Zukunft CH: Wie würden denn Sie Autismus definieren?
Rohrer-Michlig: Sicher kann man festhalten, dass Autismus ein sehr komplexes Phänomen ist. Ich gehe heute davon aus, dass dem Autismus-Spektrum ein sogenanntes „affektives“ oder auch „neurodivergentes“ Nervensystem zugrunde liegt. Ein solches Nervensystem nimmt im Vergleich zu einem neurotypischen (= nicht neurodivergenten) Nervensystem deutlich detailliertere Reize auf und verarbeitet diese. Ich vergleiche das gerne mit Puzzles. Während ein neurodivergenter Mensch vom gleichen Bild ein 5000er-Puzzle einkauft und dieses in Windeseile zusammensetzt, um das ganze Bild zu bekommen, kauft sich der Neurotyp das ganze Bild ein und zerlegt es in ein paar Einzelteile. Das bedeutet, dass der neurodivergente Mensch in der gleichen Zeit deutlich mehr verarbeiten muss, um ein ganzes Bild zu erhalten, dafür aber auch deutlich mehr Einzelheiten dieses Bildes in dieser Zeit registriert.
Dass so ein Nervensystem allerdings störungsanfälliger ist, weil es eben auch mehr aufnehmen muss, liegt auf der Hand. Entsprechend ist die Wahrscheinlichkeit, dass Betroffene viel schneller in überfordernde Situationen geraten – und zwar schon vor der Geburt wie auch als Baby! – viel grösser als bei den neurotypischen Menschen. Und genau da setzt schliesslich der ganze Stress-/Trauma-Mechanismus in unserem Gehirn ein. Bei autistischen Menschen setzen solche Reaktionen allerdings auf Situationen oder Ereignisse ein, in denen ein Neurotyp sie nicht erwarten würde, da sein Nervensystem in der entsprechenden Situation nichts wahrnimmt, was es zu einer Stressreaktion veranlassen würde. So kommt es zu gegenseitigen Verständigungsproblemen zwischen neurotypischen und autistischen Menschen. Das wiederum erklärt die Beeinträchtigung der sozialen Interaktion und zwischenmenschlichen Beziehungen wie auch die Beeinträchtigung der (verbalen) Kommunikation.
Zukunft CH: Was zeichnet Menschen mit Autismus aus?
Rohrer-Michlig: Diese Frage ist verfänglich. Lassen Sie uns die Frage doch mal umdrehen: Was zeichnet denn neurotypische Menschen aus? Das lässt sich so generell nicht einfach sagen, oder? Menschen im Autismus-Spektrum sind so individuell wie neurotypische Menschen. Ich erlebe es aber leider immer wieder, dass auf Grund der gängigen Diagnosekriterien Menschen im Autismus-Spektrum schubladisiert werden und man ihnen mit verletzenden Vorurteilen begegnet.
Ich erhielt als Kind, als Jugendliche wie auch in meiner Ausbildung zur Sekundarlehrerin stets Komplimente für mein Sozialverhalten. Gemäss den gängigen Kriterien spricht das ja gegen eine Autismus-Spektrum-Diagnose. Ich hatte ausserdem schon immer eine grosse Vorliebe für Sprachen und fokussierte entsprechend in meinen Studien auf Deutsch und Französisch Linguistik. Auch wenn es landläufig heisst, dass Menschen im Autismus-Spektrum Mühe mit einer bildhaften Sprache haben und auf eine klare 1:1-Kommunikation angewiesen sind, so liebe ich es dennoch, mich in Metaphern resp. generell in einer bildhaften Sprache auszudrücken. Das habe ich durch meine Studien, das viele Lesen, über die Fremdsprachen, aber eben auch durch meine journalistischen Tätigkeiten vertieft gelernt und beherrsche es wahrscheinlich mittlerweile besser als manch neurotypischer Mensch, der mit Sprachen nichts am Hut hat. Trotzdem habe ich heute eine Diagnose als Autistin.
Es gibt Autisten, die im Bereich Mathematik absolute Genies sind. Es gibt aber auch diejenigen, die mit Mathematik Mühe haben. Es gibt Autisten, die sehr reflektiert sind, und es gibt diejenigen, die vor lauter Reizüberflutung keinen klaren Gedanken fassen können. Es gibt Autisten, die ausgeprägte Inselbegabungen haben, und es gibt diejenigen, deren Begabungen nicht so offensichtlich sind. Und ganz wichtig auch: es gibt hochintelligente Menschen im Autismus-Spektrum, genauso wie es auch Menschen mit einem tieferen IQ im Spektrum gibt.
Kurz auf den Punkt gebracht: Es ist letztlich die Individualität, die uns alle Menschen, auch die Menschen im Autismus-Spektrum auszeichnet. Nur haben Menschen im Autismus-Spektrum andere Grundvoraussetzungen, mit denen sie sich den Weg durch eine mehrheitlich neurotypische Gesellschaft bahnen müssen.
Zukunft CH: Mit welchen Herausforderungen haben Betroffene im Alltag zu kämpfen und welche Hilfestellungen brauchen sie?
Rohrer-Michlig: Oh, mit sehr vielen! Darüber könnte ich ein dickes Buch schreiben! Zusammengefasst die wohl grössten Herausforderungen sind unsere Gesellschaftsstrukturen, die sich in erster Linie auf die neurotypische Mehrheit ausrichten und sich keineswegs zu Gunsten der Menschen im Autismus-Spektrum entwickeln. Die Bevölkerungszunahme, die Verdichtung der Gesellschaft und die damit einhergehende Zunahme der Reizeinflüsse machen uns Betroffenen das Leben schwer. Andererseits sind es auch alte Prinzipien und damit verbunden die Unwissenheit vieler Leute, dass es doch tatsächlich Menschen gibt, die nicht nach diesen Prinzipien leben können – nicht, weil sie nicht wollen, sondern weil es ihr physischer Zustand schlicht nicht zulässt.
Wie oft höre ich beispielsweise von Lehrpersonen das Vorurteil gegenüber von autistischen Kindern oder Jugendlichen: „Der will einfach nicht…!“ Frage ich dann beim Kind oder Jugendlichen nach, zeigt sich in aller Regel, dass ein triftiger Grund zu seinem Verhalten geführt hat – ein Grund, der absolut nichts mit dem Willen zu tun hat, der aber für neurotypische Menschen eben nicht einfach so auf der Hand liegt. Tatsächlich tendieren vor allem Erwachsene zu solchen Vorurteilen, insbesondere Leute, die an alteingesessenen Prinzipien festhalten. Ganz schlimm wird’s dann, wenn das vermeintliche Fehlverhalten noch sanktioniert wird, wobei solche Sanktionen oft in Form von Verurteilung auch ganz subtil verlaufen können.
Zukunft CH: Könnten Sie Beispiele nennen?
Rohrer-Michlig: Ein Beispiel habe ich mit meiner eigenen Tochter erlebt: In ihrer ersten Violine-Stunde verlangte die Lehrerin von ihr, dass sie ihr zur Begrüssung und zur Verabschiedung die Hand reichte und in die Augen blicken musste. Weil meine Tochter aber ihren Blick abrupt abwandte, quittierte die Lehrerin dies mit einer heftigen Schelte. Da musste ich einschreiten, denn ich sah meiner Tochter an, wie ihr Körper bereits beim Blickkontakt zusammenzuckte und sich ihr Gesicht verzog. Ich kenne dieses Gefühl von mir selbst. Wenn ich jemandem in dieser Form in die Augen blicken muss – diese Lehrerin zog meine Tochter damals vehement heran und starrte sie richtig an –, dann fühlt sich das an, wie wenn ein heftiger Blitzschlag durch den ganzen Körper fährt. Ein furchtbarer Schmerz!
Ein Kind ist in so einer Situation der Lehrerin ausgeliefert, wenn diese das entsprechende Feingefühl nicht aufbringen kann und an ihrem Prinzip festhält. Da muss man sich dann nicht mehr wundern, wenn so ein Kind schliesslich im besten Fall mit Rückzug, im schlimmsten Fall mit Aggression reagiert, womit wir dann ja wieder bei den Stress- resp. Trauma-Mechanismen wären. Die Schelte der Lehrerin, weil sich meine Tochter damals ganz abwandte, war dann zu viel. Diese Situation endete damals damit, dass ich die Lehrerin stoppte und ihr erklärte, was da in meiner Tochter vorging und weshalb sie das von ihr Verlangte gar nicht leisten konnte. Die Dame liess zwar in dem Moment von ihr ab, aber ihr Blick liess mich deutlich spüren, dass sie kein Verständnis für meine Intervention aufbringen konnte.
Es gibt leider immer wieder Leute, die der Ansicht sind, dass man alles lernen kann bzw. dass alles eine Frage der Erziehung ist, auch wenn man im Autismus-Spektrum ist. Solchen Leuten wünschte ich einfach einmal, dass sie das physische und psychische Empfinden der Betroffenen direkt gespiegelt bekommen könnten. Ob sie dann noch so etwas behaupten würden, wage ich zu bezweifeln.
Zukunft CH: Ihrer Ansicht nach sollte man beim Autismus-Spektrum nicht von einer Störung sprechen. Inwiefern können Menschen im Autismus-Spektrum reflektieren, dass ihr Nervensystem anders arbeitet als das anderer Menschen?
Rohrer-Michlig: Ja, wie bereits erwähnt, bin ich persönlich der Meinung, dass das Autismus-Spektrum nicht grundsätzlich eine Störung, sondern eine natürliche Veranlagung ist, die sich einfach als störungsanfälliger als die neurotypische Veranlagung erweist. Angesichts dieser Definition müssen Menschen im Autismus-Spektrum auch keine Störung im allgemeinen Sinn reflektieren, sondern sie müssen im Prinzip viel stärker als neurotypische Menschen eine persönliche Achtsamkeit entwickeln und lernen, für ihre persönlichen Bedürfnisse einzustehen.
Wenn Menschen im Autismus-Spektrum lernen, ihre Grenzen zu spüren, Schmerzen oder Überreizungen nicht einfach als „normal“ hinzunehmen, weil ihnen dies womöglich als Kind so eingetrichtert worden ist, wenn sie sich bewusstwerden, inwiefern sie anders ticken als die neurotypische Mehrheit, und insbesondere wenn sie lernen zu akzeptieren, dass sie anders sind und dies auch sein dürfen, dann finden sie in der Regel gute Strategien und Wege, mit dieser Veranlagung ein erfülltes Leben zu führen.
Zukunft CH: Vielen Dank für das Gespräch!
Weitere Informationen zur Arbeit von Anita Rohrer-Michlig finden Sie unter insideaut.ch.