Themen wie der Umgang mit der Corona-Krise oder die Flüchtlingspolitik lassen die Wellen hochschlagen. Viele Meinungen sind schwer verständlich und anstössige Formulierungen keine Seltenheit. Wo ist die Grenze des Sagbaren auf der einen Seite und wo fängt auf der anderen eine undemokratische Zensur an?
Von Tobias Kolb
„Ich hasse, was du sagst – aber ich würde mein Leben dafür geben, dass du es sagen darfst.“ Dieses Zitat wird dem französischen Dichter Voltaire zugeschrieben, der eine zentrale Gestalt der frühen Aufklärung war. Die Freiheit, sagen zu können, was man will, ohne Repressionen befürchten zu müssen, war ein wichtiges Motiv der Französischen Revolution, die dieses in ihrem späteren Verlauf allerdings nicht immer konsequent umsetzte. Lässt sich Meinungsfreiheit durchhalten? Die Länder Westeuropas sind glücklicherweise Demokratien, welche die Meinungsfreiheit sogar in ihren Verfassungen und Gesetzen verankert haben. Trotzdem gibt es manch bedenkliche Entwicklung.
Debattenkultur in der Corona-Krise
„Die Plattformen (…) machen gefährliche Inhalte und irreführende Werbung weniger sichtbar oder löschen sie, aber es muss noch mehr getan werden.“ Dieses Zitat stammt von der EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen aus einem Statement über die Gefährlichkeit sogenannter „Fake-News“. Man mag an gewissen Aussagen von Andersdenkenden einiges zu kritisieren haben und es ist richtig und wichtig, Aussagen auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen. Fraglich ist allerdings, ob die Position einer Regierung mit Löschungen durchgesetzt werden sollte, wie es z.B. dem Epidemiologen Prof. Bahkdi geschehen ist, der eine abweichende Meinung zu der Verhältnismäßigkeit der Corona-Massnahmen vertritt und dessen Videos wiederholt gelöscht wurden. Das Argument, dass solche Löschungen dem Schutz der Bevölkerung dienen würden, muss hinterfragt werden: Warum muss man die Bevölkerung vor Andersdenkenden schützen? Ist sie nicht in der Lage, sich ein eigenes kritisches Urteil zu bilden? Und welches kritische Element hat unsere Demokratie noch, wenn abweichende Meinungen gelöscht werden? Man kann also in der Corona-Debatte durchaus die Frage nach einem freien öffentlichen und wissenschaftlichen Diskurs stellen.
Lisa Eckhart und Cancel Culture
Ein Gebiet, in dem sich eine Einengung oder zumindest eine Verschiebung der Meinungsfreiheit aktuell abzeichnet, ist die Kultur. „Cancel Culture“ nennt man das Phänomen, dass unliebsame Künstler auf öffentlichen Druck hin ausgeladen oder von ihren Verlagen im Stich gelassen werden. Ein Beispiel hierfür ist die Ausladung der Kabarettistin Lisa Eckhart vom Harbourfront Festival, die aufgrund von Sicherheitsbedenken erfolgte und weil andere Kandidaten des Literaturwettbewerbs nicht mit ihr auftreten wollten. Der Grund dafür waren Antisemitismusvorwürfe, die allerdings schwer belegbar sind. Bei Cancel Culture geht es zwar nicht um staatliche Zensur, aber um psychischen und öffentlichen Druck sowie Gewaltandrohungen, denen sich Verlage und Veranstalter häufig beugen. Der Philosoph Gunnar Kaiser hat mit dem Schriftsteller Milosz Matuschek eine Unterschriftensammlung gegen Cancel Culture veröffentlicht. Darin heisst es „absagen, löschen, zensieren“: Seit einigen Jahren macht sich ein Ungeist breit, der das freie Denken und Sprechen in den Würgegriff nimmt …“. Dieser hat mittlerweile über 19’000 Unterschriften, darunter die von Kabarettist Dieter Nuhr und Journalistin Birgit Kelle.
Nicht den Weg der Französischen Revolution gehen
Im Sinne der Toleranz seinen Mitmenschen den Mund zu verbieten, ist wohl genauso obskur, wie Menschen für die Freiheit einzusperren. Dies zeigte sich im späteren Verlauf der Französischen Revolution, dem sogenannten „Terreur“, in dem sich der Kampf für Freiheit und Gleichheit zur autoritären Schreckensherrschaft entwickelte und massenweise Köpfe rollten. Natürlich gibt es Meinungen, die offen menschenverachtend, diffamierend und klar rechtsverletzend sind und somit keinen Raum im offenen Diskurs haben sollten, aber mit derartigen Vorwürfen, die in den letzten Jahren deutlich zuzunehmen scheinen – sollte man sehr vorsichtig sein, denn am Ende lebt eine Demokratie vom Diskurs und dem Vertrauen darauf, dass sich die Bürger eine eigene Meinung bilden und diese auch einbringen dürfen. Menschen vom öffentlichen Diskurs auszuschliessen, führt über kurz oder lang nur zu Lager- und Blasenbildung. Es muss vielmehr darum gehen, miteinander zu reden und einander zu ertragen. Dies ist nicht immer einfach. Doch welche Möglichkeit, miteinander umzugehen, bleibt uns, wenn wir nicht mehr miteinander sprechen und es nicht schaffen, den öffentlichen Debattenraum zu erhalten?