Sie sind bunt, vielfältig und für hiesige Verhältnisse oft ungewohnt lebendig: Migrationskirchen in der Schweiz. Mit ihren sehr lebhaften und theologisch eher konservativen Gottesdiensten und Glaubensleben tragen sie dazu bei, dass in der Schweiz eine neue kirchliche und gesellschaftliche Realität entsteht. Und sie leisten überaus wertvolle Integrationsarbeit für Staat und Gesellschaft.
Sie haben ihre Heimat verlassen und sind in ein anderes Land gegangen – manche aus politischen, andere aus religiösen oder auch wirtschaftlichen Gründen. Was sie in ihre neue Heimat mitnehmen, ist ihre Religion und ihren Glauben. So suchen sich die Migranten hierzulande dann Anschluss an bestehende Glaubensgemeinschaften oder gründen neue. Auf diesem Wege entstanden in der Schweiz in den letzten Jahrzehnten mehrere hundert so genannte Migrationskirchen, sprich christliche Kirchen und Gemeinschaften mit Mitgliedern aus fremden Ländern. Während sich laut der Studie „Neue Migrationskirchen in der Schweiz“, herausgegeben 2009 vom Schweizerischen Evangelischen Kirchenbund (SEK), in den 70er-Jahren vor allem italienische, ungarische, holländische, englische, russische oder serbische Gemeinden in der Schweiz bildeten, kommen die Mitglieder der in den letzten Jahren gegründeten Migrationskirchen vermehrt aus Afrika, Lateinamerika oder Asiens. Über 300 dieser neuen Migrationskirchen mit mehreren tausend Mitgliedern sind schätzungsweise inzwischen entstanden.
Viele junge Menschen im Gottesdienst
Die Landschaft der Migrationskirchen ist damit sehr viel bunter geworden – nicht nur in ihrer ethnischen Zusammensetzung. Für uns Mitteleuropäer haben gerade diese neuen Migrationskirchen eine besondere Anziehungskraft: Denn so vielfältig sie in ihren Gottesdienstfeiern sind, so findet sich ein Element immer wieder: die besondere Hingabe und Freude – etwas, das wir bei unseren eigenen Kirchen oftmals vermissen. Und im Gegensatz zu unseren teils nur spärlich von jüngeren Menschen besuchten Kirchenräumen sind es in den Migrationskirchen meist junge Menschen, Familien und Kinder, die auf fröhliche Weise ihren Glauben feiern – oft zum Trotz aller Widrigkeiten ihrer persönlichen Lage. Denn der Aufenthaltsstatus dieser Christen ist nicht selten ein ungewisser.
Überhaupt: Die Migrationskirchen in der Schweiz in ein festes Schema zu pressen, fällt schwer. Anders als reformierte oder katholische Kirchgemeinden sind sie nicht einheitlich organisiert oder strukturiert, oft haben sie nicht einmal eine vereinsrechtliche Basis. Sie sind rechtlich gesehen keine Landeskirche und geniessen auch keine öffentlich-rechtliche Anerkennung durch den Staat. Die Menschen, welche die Migrationskirchen besuchen, reisen zudem oft aus der ganzen Schweiz an oder sogar aus Gebieten ausserhalb der Landesgrenzen. Somit lassen sich die Migrationskirchen auch geographisch schwer fassen oder eingrenzen. Denn ihr Einzugsgebiet ist somit meist deutlich grösser als das einer typischen Schweizer Gemeinde. Auch die konfessionelle Zugehörigkeit der einzelnen Mitglieder hat weniger Bedeutung. Viele der neuen Migrationskirchen sind überkonfessionell, einige lassen sich gar keiner der hierzulande bekannten Kirchen zuordnen. Verbindende Elemente sind eher Sprache und ethnische Zugehörigkeit. Vor allem die neuen Migrationskirchen sind jedoch meist charismatisch- pfingstlich ausgerichtet, was gerade bei Vertretern der Landeskirche immer wieder für Befremdung sorgt.
Ein weiterer Unterschied zu den Schweizer Kirchen besteht darin, dass die Migrationskirchen im Regelfall nicht über bezahlte Mitarbeitende verfügen, sondern fast gänzlich vom freiwilligen Engagement ihrer Mitglieder leben. Die Pfarrer müssen oft unter schwierigen Bedingungen die ihre Kirche zusammenhalten, denn eine Doppelbelastung durch eine andere Arbeit, um sich den Lebensunterhalt zu verdienen, ist nicht selten. Für ihre Gottesdienste kommen die Migrationskirchen deshalb auch nicht in eigenen Häusern, sondern entweder in Räumen der Landeskirchen, Freikirchen oder anderen gemieteten bzw. zur Verfügung gestellten Räumen unter. So fristen viele der Migrationskirchen ein nach aussen sehr unscheinbares Dasein, da man sie in der Öffentlichkeit nicht wahrnimmt.
Ein Stück Heimat in der Fremde
Trotz dieser Umstände finden die Migranten in ihren Kirchen ein Stück Heimat in der Fremde. Mit den anderen Mitgliedern verbindet sie vor allem der Glaube, die gemeinsame Sprache, der kulturelle Hintergrund und auch die Lebensumstände, welche von finanziellen Nöten und Zukunftsängsten gekennzeichnet sind. In den Migrationskirchen finden sie ein Netz, das sie trägt und vor Vereinsamung schützt. Daneben bekommen die Migranten durch Gottesdienste, Gebetsgruppen und andere Veranstaltungen mehr Struktur in ihren oft unsicheren Alltag, denn die Migrationskirchen haben meist ein sehr lebendiges Gemeindeleben. Weiterhin sind die Migrationskirchen auch Anlaufstelle für das alltägliche Leben, z.B. wenn es um Wohnungs- oder Arbeitssuche geht oder um Hilfestellung im Umgang mit Behörden.
Wertvolle Integrationsarbeit
Diese Aspekte spielen vor allem vor dem Hintergrund der aktuell immer wieder geführten Integrationsdebatten eine grosse Rolle. Während nämlich um eine mögliche Integration des Islams, der eine völlig andere Religion und auch Ideologie nach Europa trägt, immer wieder diskutiert wird, wird das Integrationspotenzial der neuen Migrationskirchen bisher kaum erkannt. Dabei leisten diese wertvolle und ganz praktische Integrationsarbeit – und das auf der gleichen Grundlage, welche die Schweiz und auch ganz Europa seit vielen Jahrhunderten trägt: das Vertrauen auf Jesus Christus.
Ihre Integrationsarbeit leisten diese Migrationskirchen freiwillig und unentgeltlich. Damit ersparen sie Staat, Kirchen und der Gesellschaft viel Arbeit und finanziellen Aufwand. So stellt die SEK-Studie fest: „Als Migranten-Selbstorganisationen wirken Migrationskirchen für ihre Mitglieder identitätsstiftend und sind gleichzeitig Orte der Gemeinschaft, die beim Zurechtfinden in der Gesellschaft unterstützend wirken. Migrationskirchen haben deshalb eine wichtige kohäsive Funktion von gesamtgesellschaftlicher Tragweite.“
Chancen für Schweizer Kirche
Trotz dieser bewundernswerten Integrationsarbeit werden diese Migrationschristen aus Afrika, Lateinamerika, Asien und den anderen europäischen Ländern leider von uns oft nicht als Christen, sondern in erster Linie als Fremde wahrgenommen – obwohl sie mit der Mehrheit unserer Bevölkerung ihre Religion teilen. Dabei haben viele von ihnen vor allem einen Wunsch: Sie wollen keine einzelnen, ethnisch abgegrenzten Gruppen sein, sondern ein Teil der hier lebenden Menschen und unserer grossen Kirchenfamilie.
Ihnen dies zu ermöglichen, ist eine der grossen Herausforderungen und auch Chancen für unsere Schweizer Kirchenlandschaft und Gesellschaft. Denn wir profitieren nicht nur von ihrer Integrationsarbeit, sondern auch von ihrem oftmals klareren Verständnis vom Glauben und dem ausgeprägten missionarischen Sendungsbewusstsein. Dass es mittlerweile zur reformierten wie auch katholischen Kirche und den Freikirchen rege Kontakte gibt, ist sehr erfreulich, darf aber nicht das Ende sein. Es gilt, die Migrationskirchen mehr zu unterstützen und vor allem persönliche Begegnungen zu fördern.
Von Beatrice Gall