Kommen Sie heute mit mir nach Genf, in die heimliche Hauptstadt der Schweiz. Die Metropole der internationalen Organisationen! Aber Genf hat noch viel mehr zu bieten.
Vom Bahnhof „Cornavin“ spaziere ich über die Rhône auf der „Pont du Mont-Blanc“, zur Linken das Wahrzeichen der Stadt, der „Jet d’Eau“, die riesige Wasserfontäne im Genfer See. Nun geht es hoch in die Altstadt, hinüber zur Kathedrale St. Pierre. Reformiert schlicht. Hier hat der prominenteste Bürger in der Geschichte der Stadt, Johannes Calvin, gelehrt und gepredigt. Am 10. Juli 2009 wurde hier sein 500. Geburtstag feierlich begangen. Von dort an herrschaftlichen Bürgerhäusern und am Grossratsgebäude vorbei, hin zu einem kleinen Plateau am Rande der Altstadt. Ein paar Treppen hinunter und ich stehe vor einem monumentalen Mauerrelief. Oft sind Koreaner, Chinesen, Franzosen. Schweizer und amerikanische Touristen hier; meist „Presbyterianer“ oder eben „reformierte“ Christen. Sie stehen hier vor ihren geistlichen Vätern, denn aus dieser sog. Reformationsmauer tritt eine Gruppe überlebensgrosser Männer hervor. Darunter sind Farel, Beza, Knox, aber auch Johannes Calvin. Auf der Seite wird an Zwingli und Luther erinnert, später ebenfalls an die Vorreformatoren, Waldes, Wyclif und Hus, und an Marie Dentière. Der Grundstein zum Reformationsdenkmal wurde beim 400. Geburtstag gelegt, 1909. Es ist etwa 100 m lang, wurde v.a. von den reformierten Christen aus Ungarn finanziert. An diesem Reformationsdenkmal werden Einfluss, Ausbreitung und Geschichte des reformierten Protestantismus vor Augen geführt. Die Wirkungsgeschichte über Jahrhunderte, die Gott durch Calvin in Gang setzte, ist beeindruckend. Mit einem Buch unter dem Arm – der Bibel – schaut er auf mich herab. Ernst, aristokratisch. Was war das für ein Mensch, hat er gelacht, geliebt? Kann ich heute etwas mit diesem Mann anfangen, der vor 500 Jahren geboren wurde?

Viel Unkenntnis und Klischees

Man kann sehr viel mit ihm anfangen, wenn man bereit ist, sich von Klischees über ihn zu befreien. „Nachdem man Calvins Theologie wieder entdeckt und neu geschätzt worden ist, ist es an der Zeit, sich durch die psychologische Analyse Calvins darauf aufmerksam machen zu lassen, welche grosse und starke Persönlichkeit der Genfer Reformator doch eigentlich ist. Er ist zu lange von Historikern, aber auch von Psychologen verkannt worden.“ Leider haben viele Menschen ein negatives Klischee, erlernt in der Schule, auch aus neueren Schulbüchern, oder in der Kirche. Ebenso haben Theologen unrevidierte Vorurteile, weil sie zu wenig informiert sind. Der Theologieprofessor Eberhard Busch schrieb: „Wir dürfen uns darauf gefasst machen, dass wir von Calvin etwas zu lernen bekommen. Dazu ist es wohl manchmal nicht gekommen. Man ist oft genug in Denkschablonen, in grober Polemik oder einfach in Unkenntnis an ihm vorbeigegangen … auf der anderen, viel grösseren Seite findet sich enorme Unkenntnis dieses Reformators und seines Werkes, auch unter Theologen. (1)

Calvin wurde 1509 geboren, wuchs in Noyon in Nordfrankreich auf. Er ist das vierte von sechs Kindern. Sein jüngster Bruder stirbt bereits im Kindesalter. Er wächst in der damaligen römisch-katholischen Frömmigkeit auf. Als Calvin zwölf Jahre alt ist, stirbt seine Mutter. Sein Vater heiratet ein zweites Mal. Er bestimmt, dass sein Sohn Theologe werden soll. So schickt er ihn im Alter von 14 Jahren zum Studium nach Paris. Zwischen Calvins Vater und den Geistlichen von Noyon kommt es zu einem Konflikt. Er kommt zur Überzeugung, die theologische Laufbahn seines Sohnes sei nicht zukunftsträchtig. Calvin studiert infolgedessen Rechtswissenschaften bei berühmten Professoren in Orleans und Bourges und schliesst das Studium 1532 blendend ab. Im Mai 1531 stirbt sein Vater überraschend. Nun kehrt er nach Paris zurück. Calvin hat jedoch schon lange Kenntnis von den reformatorischen Schriften Luthers und anderer, studiert die Theologen der alten Kirche (Kirchenväter). Wann er sich der Reformation zuwendet, ist nicht mit einem Datum sicher zu stellen. Wegen des Krieges zwischen Franz I. und Karl V. ist er gezwungen, den Umweg über Genf zu nehmen, um nach Strassburg zu kommen. Genf führte kurz zuvor die Reformation ein (Mai 1536), sodass der Bischof fliehen muss. Farel erfährt von Calvins Kommen, beschwört ihn zu bleiben, damit sie die Reformation in Genf weiter ausbauen können. Wegen Meinungsverschiedenheit bezüglich der Gottesdienstordnung werden der junge Calvin und der ältere Farel von der Genfer Elite mit „Schimpf und Schande“ ausgewiesen. Calvin reist über Basel nach Strassburg zu Bucer und betreut dort die protestantischen Flüchtlinge. Gerne ist er dort. Unterdessen droht in der Stadt das Chaos auszubrechen. Kardinal Sadolet bittet die Genfer mit einem Brief, die Reformation rückgängig zu machen. Die Genfer sind überfordert und bitten Calvin, Sadolet zu antworten. Innert sechs Tage verfasst er einen „Brief“ von rund 50 Seiten, in Latein natürlich. Er zählt zu den genialsten Dokumenten der gesamten Reformationszeit. Heute in der neuen Studienausgabe zu Calvin abgedruckt, kann man diesen auf Deutsch lesen. (2) Der Brief schlägt ein. Calvin wird demütig gebeten, nach Genf zurückzukommen. Er wiederum will nicht. Viele Mitreformatoren zwingen ihn. Er geht ungern, sieht jedoch darin erneut den Willen Gottes für sich.

Bürgerrecht erst fünf Jahre vor dem Tod

Zuvor hatte Calvin in Strassburg Idelette de Bure, eine junge Witwe mit zwei Kindern, geheiratet. Ihr gemeinsames Kind, das am 28. Juli 1542 zur Welt kommt, stirbt knapp vier Wochen nach der Geburt und Idelette 1549 nach neunjähriger Ehe. So ist Calvin mit 40 Jahren verwitwet, allein mit den zwei Kindern Idellettes aus erster Ehe. Calvin leidet sehr darunter. Von da an lebt er in Genf, hat lange Zeit nur Asylstatus, was juristisch bedeutet, dass er jederzeit innerhalb von drei Tagen durch Genfs Regierung ausgewiesen werden kann. Calvins Ziel: Eine Kirche, die er nach biblischem Vorbild aufbauen will (getrennt vom Staat). Wie Luther hängt er dem Prinzip an: allein der Glaube (an Jesus Christus), allein die Gnade, allein die Heilige Schrift, allein Christus. Das besetzte sein ganzes Denken und seine Gefühle. 1559 gründet Calvin die Genfer Akademie (Ausbildung für Theologen). Erst fünf Jahre vor seinem Tod erhält er das Genfer Bürgerrecht. 1564, im Alter von 55 Jahren, stirbt Calvin in Genf.

Denkt und fühlt man sich in das Leben Calvins hinein, kann das sehr viel Ermutigung und Inspiration bringen. Das gilt ebenso für seine Schriften. Genf wurde dank ihm zum internationalen Zentrum für den reformierten Protestantismus in Europa. Später, in den neuenglischen Kolonien, das Kernland der USA, fand er interkontinentale Verbreitung und vor allem von dort die weltweite Verbreitung durch die Mission der „Presbyterianer“. Das will das Reformationsdenkmal aufzeigen – eine eindrückliche Wirkungsgeschichte. Der Völkerbundspalast steht letztlich wegen dieser dort. Ebenso haben internationale Organisationen wie das Rote Kreuz oder UNO-Organisationen ihren Sitz in Genf. Calvins Leben und Denken beinhaltet in vielem, für den Menschen von heute, für die Kirche und Gesellschaft und für die globalisierte Welt eine hohe Aktualität.

(1) Eberhard Busch: „Gotteserkenntnis und Menschlichkeit – Einsichten in die Theologie Johannes Calvins“, 2006, S. 10
(2) Calvin Studienausgabe, Band 1.2, 1994, S. 346 ff
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Pfr. Beat Laffer studierte Theologie, Philosophie und Naturwissenschaften, war anschliessend Studentenseelsorger und ist seit 1980 Gemeindepfarrer. Vor kurzem schloss er eine dreimonatige Weiterbildung über Calvin ab. Pfr. Laffer steht gerne für Vorträge zu Calvin zur Verfügung.

Buchempfehlungen zum Leben, Denken und Wirken Calvins:
Reiner Rohloff: „Calvin kennen lernen“, 96 S., Fr. 17.90
Eberhard Busch: „Gotteserkenntnis und Menschlichkeit – Einsichten in die Theologie Johannes Calvins“, 179 S., Fr. 29.80

Von Pfr. Beat Laffer