Unter Berücksichtigung aller Hygieneauflagen fanden sich knapp 100 Personen in Präsenz und über 400 Zuschaltungen beim Livestream ein zu der Konferenz „Das Afghanistan-Desaster: Lehre für die Zukunft?“. Diese wurde unter der Schirmherrschaft von Staatsministerin Lucia Puttrich, Hessisches Ministerium für Bundes- und Europaangelegenheiten, am Frankfurter Forschungszentrum Globaler Islam der Goethe-Universität am 1. November 2021 abgehalten.
Die erneute Machtübernahme der Taliban in Afghanistan hat einen Schock in weiten Teilen der internationalen Gemeinschaft ausgelöst. 20 Jahre lang engagierten sich die USA und zahlreiche andere westliche Länder für den Aufbau eines demokratischen Staates, ein modernes Bildungswesen und die Umsetzung der Menschen- und besonders der Frauenrechte. Einheimische Sicherheitskräfte in Armee und Polizei sollten den neuen Staat und seine Errungenschaften gegen islamische Extremisten absichern. Dass es dabei immer wieder Schwierigkeiten gab, wurde mit der allgegenwärtigen Korruption oder auch Fällen von Fehlverhalten ausländischer Militärangehöriger zugeschrieben, bei denen einheimische Zivilisten starben. Erfolge wurden medial so präsentiert, als ob die demokratische Transformation insgesamt auf einem guten Weg sei. Jetzt wurde offensichtlich, dass dies eher einem Wunsch als den Tatsachen entsprach. Die seit Jahren erstarkenden Taliban marschierten ohne nennenswerten Widerstand durch das Land und nahmen eine Stadt nach der anderen ein. Zuletzt auch Kabul. Der Truppenabzug westlicher Armeen ähnelt einer überhasteten Flucht und hinterlässt auch eine humanitäre Katastrophe.
Eine Reihe von offenen Fragen
Das Desaster wirft eine Reihe von Fragen auf, die an der Konferenz angesprochen wurden, so z.B.: War das anvisierte Ziel, einen demokratischen Staat aufzubauen, von Anfang utopisch? Welche Kardinalfehler wurden gemacht? Was bleibt von den zivilgesellschaftlichen Projekten? Müssen wir mit einem Erstarken des politischen Islam und des internationalen Dschihadismus rechnen? Welche Konsequenzen hat dies für die Innenpolitik? Die Machtübernahme der Taliban wurde von Politik, Medien und Zivilgesellschaft im Hinblick auf Menschenrechtsverletzungen nahezu einhellig verurteilt, doch eine ähnliche Verurteilung des Iran, die der slowenische Ministerpräsident im Juli gefordert hatte, wurde in der EU abgelehnt. Verfängt sich Westen in seiner eigenen Doppelmoral und verspielt dadurch seine Glaubwürdigkeit? Einer der Befunde der Ereignisse lautet, dass Freiheit nicht mit Zwang aufoktroyiert werden kann. Ist dies eine Bankrotterklärung für die universellen Menschenrechte?
Die wissenschaftlichen Referenten präsentierten kontroverse Positionen. Zudem gelang es zum ersten Mal, einen ranghohen Militär an eine Universität zu bekommen sowie eine geflüchtete afghanische Politikerin, die Eindrücke aus der Praxis schilderten und die Diskussion damit bereicherten. Sogar eine Demonstration sogenannter „Studies gegen Rechte Hetze“ gegen Auslandseinsätze fand vor Beginn der politischen Podiumsdiskussion mit der hessischen Staatsministerin (CDU) und den drei Bundestagsabgeordneten von SPD, FDP und GRÜNEN statt. Sie folgten aber nicht der offenen Einladung der Politiker sich im Saal an der Debatte zu beteiligen.
Medienecho
Thomas Thiel titulierte in der FAZ: „Rückzug aus einem Kulturkampf. Der Terror hat keinen Wohnsitz: Eine Konferenz am Forschungszentrum Globaler Islam zieht die Lehren aus dem Afghanistan-Einsatz. Zum Scheitern verurteilt? Nach dem Abzug wurde Afghanistan von den Taliban überrannt – was den Sinn des gesamten Einsatzes in Frage stellte. In den Wirren des Afghanistan-Rückzugs ging ein Telegramm fast unter, das für die Vereinigten Staaten eine glatte Ohrfeige war. Der pakistanische Premier gratulierte darin den Taliban dazu, ihr Volk von den Fesseln des Imperialismus befreit zu haben.“
Und der Artikel von Matthias von Hein in der Deutschen Welle startet mit: „Ungewöhnliches tat sich Anfang November in einem Universitätsgebäude im Frankfurter Westen: Polizeiwagen vor der Tür; am Eingang werden Taschen und Ausweise kontrolliert; drinnen im Vortragssaal fallen Personenschützer der Polizei auf mit Knopf im Ohr – und ein hochgewachsener Mann in der ersten Reihe mit Kurzhaarschnitt und in Uniform. Einer der ranghöchsten Bundeswehrsoldaten ist zum Frankfurter Forschungszentrum Globaler Islam, FFGI, gekommen: Markus Laubenthal, stellvertretender Generalinspekteur der Bundeswehr.“
„Steinzeit-Islamisten“
In der Frankfurter Neuen Presse berichtete Dr. Dieter Sattler: „Die Steinzeit-Islamisten sind wieder an der Macht. Beim überstürzten Abzug konnten nicht einmal alle diejenigen Afghanen gerettet werden, die den westlichen Truppen geholfen hatten und deshalb unmittelbar gefährdet sind. War der Einsatz also sinnlos? Was kann man für die Zukunft daraus lernen? Mit diesen Fragen beschäftigte sich gestern eine interessante Tagung an der Frankfurter Goethe-Universität. Sie zeichnete sich dadurch aus, dass sie nicht nur von Akademikern, sondern auch stark von Praktikern geprägt wurde. … Bei der Abschlussdiskussion empfahlen hessische Politikerinnen und Politiker wie Lucia Puttrich (CDU), die Erwartungen bei künftigen Interventionen herunterzuschrauben.“
Appell einer Afghanin: Taliban nicht anerkennen!
Claus-Jürgen Göpfert schildert in der Frankfurter Rundschau den Auftritt der afghanischen Politikerin Zarifa Ghafari: „Am vergangenen Montag herrscht atemlose Stille im Saal auf dem Campus der Frankfurter Goethe-Universität, als die junge Frau spricht. Die in Indien ausgebildete Ökonomin berichtet von einer Mutter, die ihre Kinder sterben sieht, weil sie ihnen keine Nahrung beschaffen kann. Sie appelliert an die „Entscheidungsträger“ der westlichen Welt, die Regierung der Taliban nicht anzuerkennen, ihnen keinen Sitz in der UN-Vollversammlung zu geben und ihnen kein Geld zur Verfügung zu stellen. Nur über humanitäre Organisationen dürfe Hilfe ins Land kommen.“
Mehr zur Konferenz und die Aufzeichnung der Beiträge sind inzwischen online abrufbar unter: www.youtube.com