Man könnte meinen, das relativistische Credo würde automatisch auch eine tolerante Debattenkultur hervorbringen. Weit gefehlt! Die Ansicht, dass jeder leben darf, wie er will, ohne dass eine Gesellschaft diesbezüglich noch gemeinsame Standards entwickeln könnte, schlägt in Meinungsterror und Intoleranz um.
Gastkommentar von Weihbischof Marian Eleganti
Ich stelle in vielen gesellschaftspolitischen und ethischen Auseinandersetzungen eine verhängnisvolle Emotionalisierung und Personalisierung der Debatte fest. Da es in der postmodernen, pluralistischen und relativistischen Gesellschaft keine allgemein gültige Wahrheit mehr geben soll, die zu suchen ist, fällt auch die Bemühung um Objektivität aufgrund von gemeinsamen Vernunftargumenten in einem offenen Dialog weg. Weil jeder seine eigene „Wahrheit“ hat bzw. „konstruiert“, die nicht die intersubjektiv gültige und von allen Vernünftigen zu suchende ist, herrschen nur noch eigene Interessen und Befindlichkeiten, Lebensstile und vor allem Emotionen, die allesamt durchgesetzt werden und recht haben wollen. Jeder, der widerspricht oder sich quer stellt, wird als „persönlicher Feind“, nicht als vernünftiger und ehrenwerter „Diskurs-Gegner“ wahrgenommen nach der Formel „Du wiedersprichst mir, also hassest Du mich“. Als ob ein Widerspruch in der Sache auch schon die Ablehnung (Hass) der Person, welche die Sache vertritt, bedeuten würde.
Diese Pervertierung einer vernünftigen Erkenntnisbemühung nach der Formel „Widerpruch = Hass“ wird von der LGBTQ-Lobby systematisch politisch umgesetzt. Jede von ihr abweichende Meinung wird als „hatespeech“ stigmatisiert oder mindestens als theoretische Voraussetzung für tätliche Gewalt gewertet. Und noch bevor ein wirkliches Gewaltverbrechen geschieht, das ganz andere Ursachen hat, droht dem Vertreter einer abweichenden Meinung eine gerichtlich verfügte Strafe oder ein Boykott seiner freien Rede durch Blockaden und andere Schikanen. Hier wird dann wirkliche Gewalt angewandt, ohne angesichts des eigenen, gleichzeitig lautstark verkündeten pluralistischen Credos (Vielfalt) zu erröten. Bis jetzt konnten wir kontrovers und anständig diskutieren, ohne tätlich angegriffen oder niedergebrüllt zu werden: Wo ist unsere Gesprächskultur und angebliche Toleranz geblieben? Universitäten sind keine Orte mehr für offener Diskurse, Objekitivitätsbemühung (Wissenschaftlichkeit) und Wahrheitssuche. Schonräume verhindern den offenen Diskurs. Es könnte sich jemand verletzt fühlen. Warum? Weil ich die Wahrheit sage? Dasselbe gilt für die gesellschaftspolitische Auseinandersetzung. Jetzt sollen wir aufgrund von Antidiskriminierungsgesetzen auch noch durch Gerichtsurteile zum Schweigen gebracht – und bestraft werden.
Vor allem der Katholizismus hat eine ausgesprochene Kultur der vernünftigen Rede entwickelt: Man lese einmal Thomas von Aquin und betrachte seine Weise, gegnerische Ansichten zu würdigen und zu widerlegen! Katholizismus bedeutete immer, den Glauben vernünftig zu durchdringen und begrifflich klar darzulegen. Katholisches Denken bzw. katholische Lehre unterscheidet deshalb peinlich genau zwischen Person und Ansicht, zw. Sünder und Sünde. Man liebt die Person bzw. den Sünder, bekämpft aber eventuell deren falsche Ansichten bzw. deren sündige Praxis. Dieser Sinn für Objektivität und Wahrheit, diese Unterscheidung von Person und Sache, ist unserer Gesellschaft total abhandengekommen. Man könnte meinen, ihr relativistisches Credo würde automatisch auch eine tolerante Debattenkultur hervorbringen. Weit gefehlt! In Wirklichkeit sieht man in Internetforen, Blogszenen und in gesellschaftlichen Auseinandersetzungen nur noch rücksichtslos zum Ausdruck gebrachte Emotionen ohne jeglichen Anstand und Respekt gegenüber der Person. Bei Meinungsdifferenzen werden Interessenskonflikte mit harten Bandagen ausgetragen, ohne die geringste Bemühung, den anderen zu verstehen und seine Meinung richtig wiederzugeben oder nachzuvollziehen, bevor man seine Ansichten bekämpft. Statt sie mit vernünftigen Argumenten zu widerlegen, wird seine Person verbal herabgesetzt und etikettiert: z.B. als „Fremden-Hasser“, „Fanatiker“, „Fundamentalist“, „(meist Rechts-) Extremer“. Oder sein Denken wird psychopathologisiert: Vernünftig argumentierende Menschen sind dann angstbesetzte (z.B. Homo-) Phobiker, mit denen man gar nicht mehr zu reden braucht. Argumente erübrigen sich. Eine ganz perfide Art, sie mundtot zu machen, ist der Versuch, ihre vernünftigen Ansichten wie z.B., dass ein Kind Vater und Mutter braucht (ein Argument gegen die Gleichstellung der homosexuellen Partnerschaft mit der heterosexuellen Ehe) über gesetzgeberische Massnahmen und Gerichtsurteile schlichtweg zu verbieten und die eigenen, irrigen Ansichten durch letztere zur gesellschaftlichen Norm zu erheben. Die relativistische Ansicht, dass jeder leben darf, wie er will, ohne dass eine Gesellschaft diesbezüglich noch gemeinsame Standards entwickeln könnte, schlägt so in Meinungsterror und Intoleranz um. Die Masse wird in Meinungskorridore gezwungen, welche Mainstreammedien, Politik und Gesetze, demokratisch nicht legitimierte Gerichtsurteile oder fast allmächtige Medienplattformen definieren. Wer nicht spurt, wird geblockt, verklagt oder gesellschaftlich stigmatisiert. Twitter, Facebook, Google u.a. sind die neuen gesellschaftlichen Inquisitionsgerichte, die aus dem Backoffice heraus darüber entscheiden, was (politisch korrekt) gedacht und gesagt werden darf.
Zur Erinnerung. An den Universitäten des Hochmittelalters galten folgende Diskursregeln (ich gebe sie aus meiner Erinnerung und mit eigenen Worten wieder):
- Die gegnerische, von der eigenen Ansicht abweichende Meinung wird zuerst nachvollzogen und mit eigenen Worten wiedergeben.
- Es wird beim Diskursgegner zurückgefragt, ob man seine Überzeugung bzw. Behauptung richtig verstanden und richtig wiedergegeben hat.
- Die Aspekte der Wahrheit in der gegnerischen Ansicht werden gewürdigt (gewichtet) und wenn möglich in die eigene Sichtweise aufgenommen.
- Andere Aspekte in der gegnerischen Ansicht werden mit Vernunftargumenten und Faktencheck respektvoll widerlegt.
- Der letzte Schritt ist der Versuch einer Synthese, der Erkenntnisfortschritt, die tiefere Einsicht.
Wie anders könnten unsere Gesellschaft und Internetforen aussehen, wenn diese Diskursregeln von allen angewandt würden!