Es gibt Situationen, da zuckt man die Achseln. Es gibt Situationen, da schüttelt man den Kopf. Und es gibt Situationen, da fasst man sich nur noch an den Kopf und zweifelt an der Existenz des gesunden Menschenverstandes. Wenn ein Kind im Kindergartenalter von den eigenen Eltern gefragt wird, welches Pronomen es für sich benutzen möchte, muss man sich definitiv fragen, welche Kategorie nun erreicht ist.

Von Ursula Baumgartner

„Ich heisse Jule und benutze die Pronomen ‚sie‘.“ „Ich bin Fin_ja und ich benutze keine Pronomen.“ So stellen sich die Eltern der oder des vierjährigen Nova in der Reportage „Geschlechtsneutrale Erziehung: Tut das den Kindern gut?“ von „Reporter“ vor, welche in der Mediathek der öffentlich-rechtlichen Sender ARD und ZDF zu finden ist. Stereotype wie rosa Kleidung für Mädchen haben bei ihnen nichts zu suchen, das Kind sucht sich selbst aus, in welchen Farben es sich kleiden möchte und mit welchen Spielsachen es spielt. Während dies viele andere Eltern ihren Kindern auch anbieten, gehen Jule und Fin_ja einige Schritte weiter. So wird Novas biologisches Geschlecht bis zum Ende der Reportage nicht verraten. Es gibt allerdings subtile Hinweise darauf, dass es sich um ein Mädchen handelt, worüber man schmunzeln muss, wenn das Kind „rosa und pink“ als Lieblingsfarben angibt.

Nova hat auch ihren oder seinen Vornamen selbst gewählt und darf regelmässig die von ihr oder ihm präferierten Pronomen angeben. Fin_ja berichtet: „Häufig sagt Nova, dass Nova keine Pronomen benutzen möchte.“ Bedenkt man, dass viele Sprachlehrer froh sind, wenn ihre Schüler beim Schulabschluss das Konzept „Pronomen“ endlich begriffen haben, ist diese Reaktion bei einem vierjährigen Kind durchaus verständlich. Doch hier ist es offenbar Teil des Programms, eine grammatikalisch defizitäre Sprechweise zum Lebensinhalt hochzustilisieren.

Im Falle von Nova darf man nun nicht einmal sagen: „Ganz der Papa!“ Denn man könnte als altmodisch veranlagter, binär denkender Mensch natürlich davon ausgehen, dass Fin_ja ein Mann ist, da Jule ja offenbar die Mutter der Kinder ist. Doch so einfach ist das nicht, wie Fin_ja den Zuschauer belehrt: „Man kann biologisch messen, welche Organe, welche Chromosomen, welche Hormone ein Mensch hat, aber Geschlecht ist ein soziales Konstrukt, das lässt sich nicht abmessen, sondern nur zuordnen und einsortieren.“

„Gender“ und „sex“

Bereits hier, aber auch im weiteren Verlauf der Dokumentation gewinnt man den Eindruck, dass der Begriff „Geschlecht“ gleichgesetzt wird mit Geschlechterrolle, Klischee oder Charakter. Dies bestätigt indirekt auch der Sexualforscher Dr. Heinz-Jürgen Voss. Auf die Frage des Reporters, was eine geschlechtsoffene Erziehung mit den Kindern mache, antwortet er mit der Gegenfrage, was es denn mit Kindern mache, „wenn wir ihnen früh klare Geschlechtscharaktere aufoktroyieren, dass sie sich so und so verhalten sollen, wenn Kinder von früh an gesagt bekommen, du bist ein Mädchen oder ein Junge“. Doch hier stellt sich nun die Gender-Bewegung selbst ein Bein. Denn während sie über Jahre und Jahrzehnte dafür gekämpft hat, die Begriffe „gender“ und „sex“ als soziales und biologisches Geschlecht zu trennen, wirft man sie nun von der anderen Seite her wieder in einen Topf. Aus Furcht davor, jemandem ein vielleicht wirklich gesellschaftlich konstruiertes Rollenbild aufzudrängen, vermeidet man nun sogar zu behaupten, es gebe so etwas wie ein biologisches Geschlecht. Darum hängt bei Jule und Fin_ja ein Plakat mit Grundsätzen, über die in ihrem Haus nicht diskutiert werden soll. Dazu gehört auch die Transfeindlichkeit, über die hier Folgendes gesagt wird: „Geschlecht ist rein konstruiert. Es gibt keine weibliche/ männliche Körperform, Chromosomen, Intimbausätze, Hormonlevel, …“

Dass dies biologisch schlicht falsch ist, scheint die beiden wenig zu stören. Wie weit man  bei der Definition von Geschlechtern gehen kann, zeigt der Dachverband der schwulen und bisexuellen Männer in der Schweiz, „Pink Cross“, auf seiner Homepage: „Mit Männer* sind alle Personen gemeint, welche sich dem männlichen Geschlecht zugehörig fühlen, sowie Personen anderer Geschlechter, die sich mit den Anliegen von Pink Cross identifizieren.“ Wenn also das Unterstützen einer Idee schon reicht, um zu einem Geschlecht zu gehören, ist es nur konsequent, auch davon auszugehen, dass Geschlechtsidentität je nach Interessenslage wandelbar ist.

Schweden als „Vorbild“

Novas Eltern sind nicht die einzigen, welche genderneutrale Erziehung vertreten. In Schweden sollen Schulen und Kindergärten Geschlechterstereotypen aktiv entgegenwirken. Im Kindergarten „Egalia“ beispielsweise, der auf das Konzept der Erzieherin und Lehrerin Lotta Rajalin zurückgeht, werden die Begriffe „Mädchen“ und „Junge“ vermieden, um keine Verknüpfungen mit traditionellen Rollenbildern aufkommen zu lassen. Gleiches gilt für geschlechtsanzeigende Pronomen wie „sie“ und „er“, die man durch ein geschlechtsneutrales ersetzt – das übrigens erst 2015 kreiert wurde und Eingang in den schwedischen Duden gefunden hat. Rajalin will, dass Egalia ein „Ort der Gleichheit und Freiheit“ wird.

Bei Rollenvorbildern spielt das Geschlecht hingegen plötzlich doch eine Rolle: Junge, starke Frauen wie die pakistanische Friedensnobelpreisträgerin Malala werden vorgestellt. Wenn in Kindergeschichten aber Männer zu sehr im Vordergrund stehen, gibt man ihnen Frauennamen oder verwendet wiederum geschlechtsneutrale Pronomen, berichtet Erzieher Martin Borgström. Geschichten von Prinzessinnen, die auf einen rettenden Prinzen warten, werden aussortiert, ebenso manch eine Geschichte von Astrid Lindgren. Dies erstaunt jedoch, denn wo würden Lindgren-Figuren besser hineinpassen als in ein Konzept, das sich treffend umschreiben lässt mit „Ich mach mir die Welt, widdewidde wie sie mir gefällt!“?

Was ist das Ziel?

Wenn Eltern wie Jule und Fin_ja so vehement einen bestimmten Erziehungsstil verfolgen, kann man wohl mit Fug und Recht davon ausgehen, dass sie sich viele Gedanken darüber gemacht haben. Doch welche Gedanken sind das? Was wollen sie mit der geschlechtsneutralen Erziehung erreichen, wovor wollen sie ihre Kinder schützen, was ihnen ermöglichen? Jule hofft, dass Nova sich frei entfalten kann und offener auf andere zugeht. Fin_ja meint, sie könnten ihr Kind mehr als Mensch sehen, da sie sich selber kein vorgefertigtes Bild von einem Sohn oder einer Tochter machen. Aber ist all das wirklich nur unter so radikaler Ausgrenzung des Geschlechts möglich? Lassen sich die gefürchteten Geschlechterstereotypen wirklich nur so vermeiden? Entgeht dem Kind dadurch nicht auch einiges?

Würden die Eltern Nova nicht auch als Mensch sehen, wenn sie ein hübsches, kreatives Mädchen, wenn er ein lebhafter, sportlicher Junge würde – oder eben sie ein lebhaftes, sportliches Mädchen oder er ein hübscher, kreativer Junge? Konfrontiert man durch das hartnäckige, permanente Leugnen jeglichen naturgegebenen Geschlechts die Kinder nicht viel früher und viel intensiver mit dem Konzept Geschlecht, als wenn man sie in ihrer kindlichen Unbefangenheit einfach sich selbst entdecken lässt?

Freiheit und Orientierung

Muss man sich, wenn Eltern in der Babygruppe scherzhaft sagen, zwei sich anlachende Babys würden später einmal heiraten, auf bierernste Weise über eine „Cis-Perspektive“ und eine „Hetero-Perspektive“ empören? Zementiert man dadurch nicht viel stärkere Stereotype, denen man dann gar nicht mehr entkommt, weil sie sich an keinerlei Fakten orientieren – nach dem Motto „Alles ist denkbar, nur keine Zweigeschlechtlichkeit!“?

Apropos Orientierung: Verwirrt diese neutrale Erziehung die Kinder nicht, weil sie sich an nichts orientieren können, oder sind es die im binärgeschlechtlichen System verhafteten Erwachsenen, die verwirrt sind und umdenken müssten, wie Dr. Heinz-Jürgen Voss meint? Oder ist es vielleicht sogar gut und gewollt, wenn man sich an nichts festhalten kann, weil es dann auch nichts gibt, wovon man festgehalten wird? Die einzige Messlatte zur Orientierung ist dann die eigene vermeintliche Freiheit.

Doch mit scheinbar völliger Freiheit sind Kinder schlichtweg überfordert, sagt Novas Erzieherin in der Kita. Sie plädiert dafür, Kinder anzuleiten, zu führen und ihnen liebevoll Grenzen zu setzen. Als Beispiel dafür, woran sich Nova statt eines Geschlechts festhalten und orientieren kann, führt Jule Hobbys, Spielzeuge oder auch Farben an, „wo Nova weiss, das ist meins, damit habe ich zu tun.“ Nun gibt es mit Sicherheit Hobbys, die man über Jahrzehnte hinweg pflegen kann und mit denen man sich tatsächlich auf die Dauer in gewisser Weise identifiziert, wie Sportarten oder das Spielen eines Instrumentes. Doch sind dies meist wohl nicht die Hobbys, die man bereits im Kindergartenalter hatte, wenn man beim Spiel eines Kindes in diesem Alter überhaupt schon von Hobby sprechen kann.

Was wäre, wenn …?

Jule und Fin_ja haben Nova in den ersten Lebensjahren drei sehr ähnlich klingende Namen zur Auswahl gestellt, damit sich das Kind seinen Namen selbst aussuchen konnte. Als Lateinliebhaber überlegt man, warum diese drei Namen denn dann nicht „Novus“, „Nova“ und „Novum“ waren, sondern „Noa“, Nora“ und eben „Nova“. Doch stellen wir uns vor, ein Elternpaar würde seinem Kleinkind immer wieder gleichzeitig verschiedenste Lebensmittel vorsetzen, damit es selbst über seine Ernährung entscheiden kann. Was für ein körperlicher Zustand, auch als Erwachsener, würde daraus vermutlich resultieren? Ist es da so unwahrscheinlich anzunehmen, dass aus einer völlig orientierungslosen Erziehung ohne Geschlecht Menschen heranwachsen, die sich von jeder Strömung mitreissen lassen, weil sie nie die Relevanz und den „Leitplankencharakter“ von real existierenden Fakten kennengelernt haben? Woher soll ein Kind wissen, dass Gummibärchen und Cornflakes zwar vielleicht besser schmecken als Tomaten und der viel geschmähte Spinat, aber zu Zahnproblemen, Übergewicht und Übersäuerung führen?  Ist es also ein Zeichen von besonderer Umsicht und Fürsorge, wenn man Kindern das Recht auf Aufklärung verweigert und ihnen gegen jede Wissenschaftlichkeit beibringt, sie hätten kein Geschlecht?

In einer Gesellschaft, in der nahezu alles erlaubt ist, was gefällt, und in der der Werteverfall fast stündlich beobachtet werden kann, ist es für Kinder und Jugendliche schwer genug, sich zurechtzufinden und eine stabile Identität zu entwickeln. Machen wir es ihnen nicht noch schwerer, indem wir sie zu Entscheidungen in Bereichen drängen, in denen die Natur längst entschieden hat. Helfen wir ihnen, ermutigen wir sie, sich selbst als das anzunehmen, was sie sind. Denn wenn wir etwas brauchen, dann sind es – im besten Sinne – starke Frauen und starke Männer.

Wissenschaftler und Ärzte fordern inzwischen den öffentlich-rechtlichen Rundfunk auf, biologische Tatsachen und wissenschaftliche Erkenntnisse wahrheitsgemäss darzustellen und von ideologischen Betrachtungsweises wegzukommen. Sie verlangen eine faktenbasierte Darstellung biologischer Sachverhalte nach dem Stand von Forschung und Wissenschaft. 120 Wissenschaftler, Psychologen und Pädagogen und über 1000 weitere Personen haben die Forderung inzwischen unterschrieben. Mehr dazu Im Artikel: Kritik an Genderberichterstattung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks

 

Hinweis:

Zukunft CH veranstaltet am 16. Juni 2022 von 19.30 bis 21.00 Uhr ein Online-Forum zum Thema „Transkinder“. Expertinnen und betroffene Eltern liefern an diesem Abend Hintergrundinformationen und beantworten Teilnehmerfragen. Jetzt noch anmelden! Infos unter: www.zukunft-ch.ch/online-forum-transkinder