Das Mittelalter gilt gemeinhin als ein Zeitalter, das von Aberglaube und Wissenschaftsfeindlichkeit geprägt war. Wenn jemand einen Menschen für absolut rückständig hält, weil er sich jedem Fortschritt verweigert, dann lebt dieser Mensch seiner Ansicht nach „noch im Mittelalter“. Aber ist diese Abwertung des Mittelalters als wissenschaftsfeindlich gerechtfertigt?
Diese Abwertung des Mittelalters stammt aus der Zeit der Aufklärung und der Französischen Revolution. Die damaligen Wissenschaftler waren der Ansicht, dass nun erst, da sich die Menschen vom Glauben lösten, das Licht der Erkenntnis und des Glückes über der Menschheit aufgehe. Darum nannten sie ihre Zeit auch das „Siècles des Lumières“ oder „The Enleightment“, also das Zeitalter der Erleuchtung. Und darum war aus ihrer Sicht das ganz im biblischen Glauben verwurzelte Mittelalter „finster“ – auf Englisch spricht man von den „Dark Ages“. Diese Abwertung des Mittelalters als wissenschafts- und fortschrittsfeindlich ist schlicht falsch. Im Gegenteil: Es waren Mönche, Priester und Bischöfe, welche die Grundlagen für eine systematische Forschung in Richtung Naturwissenschaft und Wirtschaft legten.
Mathematik, Optik und Flugmaschinen
Robert Grosseteste (ca. 1175–1253), Bischof im englischen Lincoln, war der erste Mathematiker und Physiker seiner Zeit. Er forderte, dass durch die Beobachtung von Experimenten die allgemeinen Prinzipien der Natur erforscht werden sollten. Besonders interessierte ihn der Zusammenhang zwischen Mathematik, Geometrie und Optik. Er schilderte auch anhand von Zeichnungen, wie sich Licht in einem von Wasser gefüllten Glas bricht. Seine Arbeiten waren wichtig für die Herstellung von Brillengläsern, welche bereits Ende des 13. Jahrhunderts in Florenz und Venedig massenhaft produziert wurden.
Ähnlich arbeitete der Franziskanermönch Roger Bacon (1214–1294). Er schrieb eine universale Enzyklopädie, also eine Zusammenfassung des ganzen Wissens seiner Zeit. Der Orden verbot ihm zwar zunächst diese Arbeit, aber der fortschrittliche Papst Clement IV. erlaubte sie, weil er selber an diesem Wissen interessiert war. Bacon schrieb über Mathematik und Optik, über die Anatomie des Auges und die Brechung des Lichtes in Spiegeln und Linsen und die Herstellung von Schiesspulver. Zudem schrieb er, lange vor Leonardo da Vinci, wie man in Zukunft Mikroskope, Teleskope, Flugmaschinen und Dampfmaschinen herstellen könne.
Idee der Erdumdrehung bereits vor Kopernikus
Als Universalgenie gilt der Dominikaner Albertus Magnus (um 1200-1280), Bischof von Regensburg, der u.a. an der Kölner Klosterschule unterrichtete. Er schrieb 70 Bücher, insgesamt 22’000 Seiten, darunter die erste ausführliche Darstellung der mitteleuropäischen Flora. Seine Arbeiten zur Gesteinskunde stellen den ersten Versuch dar, eine vollständige Systematik für Mineralien zu entwickeln. Ihm wird der Satz zugeschrieben: „Allein das Experiment gibt Zeugnis in diesen Dingen.“
Auch die Idee, dass die Erde sich um sich selbst dreht, wurde bereits lange vor Kopernikus diskutiert. Zwei Probleme, welche man zuerst nicht lösen konnte, sprachen gegen die Erdumdrehung: Wenn sich die Erde um sich selbst dreht, warum gibt es dann nicht einen starken Wind in der entgegengesetzten Richtung? Und: Wenn man einen Pfeil senkrecht in Luft schiesst, warum fällt er dann auf den Schützen zurück und nicht hinter ihm auf den Boden? Die Antwort fand Nicolaus von Oresme (1325–1382), Rektor der Universität von Paris und Bischof von Lisieux: Die Bewegung der Erde teilt sich allen Objekten auf der Erde mit – der Pfeil und die Luft bewegen sich mit derselben Geschwindigkeit wie die Erde.
Kein Gegensatz von Glauben und Wissen
Es ist kein Zufall, dass die Gelehrten des Mittelalters fast ausschliesslich Geistliche waren und dass sie sich nicht nur mit Theologie und Philosophie, sondern auch mit der Erforschung der Natur beschäftigten. Die Bibel erklärt, dass die Welt ein Geschöpf Gottes ist. Und Gott hat gesagt: „Machet euch die Erde untertan und herrschet über sie.“ (1. Mose 1, 28). Für andere Religionen ist die Erde von Göttern und Geistern bewohnt oder als ganze göttlich, weshalb man sie nicht erforschen und nutzen darf. Hingegen für Christen gibt es kein religiöses Hindernis, die Natur zu erforschen. Mittelalterliche Gelehrte haben von arabischen Gelehrten profitiert, die sich ihrerseits auf griechische, indische und chinesische Erkenntnisse stützten. Doch es ist das Verdienst mittelalterlicher Mönche und Bischöfe, dass sie diese Erkenntnisse zur Grundlage einer systematischen Forschung anhand von Experimenten gemacht haben. Die Behinderungen von Forschern durch die Kirche waren die Ausnahme, nicht die Regel. Denn für die Kirche gab und gibt es keinen prinzipiellen Gegensatz von Glauben und Wissen.
Wasserkraft, Windmühlen und Bankhäuser
Die Aufforderung Gottes, sich die Kräfte der Natur untertan zu machen, hat sich auch im Alltag der mittelalterlichen Menschen positiv ausgewirkt. Schon ab dem 9. Jahrhundert hat man die Wasserkraft systematisch nutzbar gemacht. So gab es um 1086 in England 5624 mit Wasserkraft betriebene Mühlen, also eine für etwa 50 Familien. In Paris stand an der Seine alle 25 Meter eine Mühle. Später kamen oberschlächtige Wasserräder zum Einsatz, indem man Dämme baute, um das Wasser von oben auf die Räder zu leiten. In Toulouse wurden damit Maschinen betrieben zum Holz- und Steinsägen, zum Bearbeiten von Messern und Schwertern, zum Hämmern von Metall, Ziehen von Drähten, Stampfen von Lumpen zur Herstellung von Papier, zum Dreschen von Weizen, Sieben von Mehl, Walken von Tüchern und Gerben von Leder. Alle 742 Klöster der Zisterzienser haben so die Wasserkraft genutzt. Ähnlich häufig wurden auch Windmühlen eingesetzt. Durch diese Maschinen wurde ein zunehmender Wohlstand erzeugt, der seinerseits den Handel förderte. Um diesen zu erleichtern, entstanden Bankhäuser. Um 1261 besass die florentinische Bank Peruzzi 15 Niederlassungen, darunter eine in London und in Tunis.
Das Mittelalter war eine Zeit grundlegender Aufbrüche in Wissenschaft, Technik und Handel, aus der sich unsere heutige Wissenschaft und Wirtschaft entwickelt haben. Der Glaube war dabei kein Hindernis, sondern sogar Motivation zur Erforschung der Natur. Damals begann der wissenschaftliche, technologische und wirtschaftliche Aufstieg Europas, weil die Bibel die Menschen zur Nutzbarmachung der Natur anleitet.
Pfr. Hansjürg Stückelberger