Es ist still geworden um die Muslim-Bruderschaft, einst als grösste aller islamistischen Bewegungen bekannt. Doch im Stillen wird der Kampf zur Ausbreitung des Islam weitergeführt.
Dr. Heinz Gstrein, Orientalist
Von Ägypten aus war die Muslim-Bruderschaft vor bald 100 Jahren zur Befreiung der islamischen Völker von ihren europäischen Kolonialherren, gegen den Zionismus und für Erringung einer Weltherrschaft des Islam als Fernziel angetreten. Vom Nil sprang ihr Funke nach Syrien über. Im späteren 20. Jahrhundert traten die Muslim-Brüder vorübergehend neben dem arabischen Nationalismus und Sozialismus des roten Pharaos Nasser und der syrisch-irakischen Baath-Partei in den Hintergrund. Mit dem alten Muslim-Bruder Anwar as-Sadat an Ägyptens Spitze wurden sie aber ab den 1970er-Jahren treibende Kraft der Re-Islamisierung, die von Kairo aus so gut wie alle Muslimländer und besonders die islamischen Parallelgesellschaften in Europa umzuprägen verstand. Eine totale Machtergreifung probte die Bruderschaft 1982 im syrischen Hama, dann wieder breiter und erfolgreicher ab 2011 im so genannten Arabischen Frühling. Sie verstand es, die ursprünglich demokratische und sozial-progressive Revolutionsbewegung zu manipulieren und vor ihren politislamischen Karren zu spannen. Sie hatte die Hände von Tunesien und Libyen bis zum Jemen und an den Golf im Spiel, errang in Ägypten 2012/13 die Staatsführung, wurden eine wichtige Kraft im syrischen Bürgerkrieg. Dann überrundeten sie jedoch noch radikalere Muslim-Kämpfer wie Al-Kaida und vor allem die Terrormiliz Islamischer Staat (IS).
Beim heutigen Wiederaufflammen internationaler Muslimgewalt in Frankreich oder Österreich halten sich die „Brüder“ bedeckt. Es sind nicht mehr die Parolen ihres Gründers Hassan al-Banna oder die Ideologie ihres Cheftheoretikers Sayyed Kutb, die dabei den Ton angeben. Der jüngste Terrorkreis in Wien liess sich von den „Anaschid“, den dschihadistischen Kampfliedern des deutschen Konvertiten Denis Cusbert inspirieren, der 2018 als Abu Talha al-Almani bei den Endkämpfen des IS am Euphrat gefallen ist. Die Bruderschaft gibt sich inzwischen durchaus legalistisch und sitzt mit Abgeordneten in verschiedenen arabischen Parlamenten. Anstelle der heute in der Türkei verfolgten islamischen Reformbewegung von Fethullah Gülen stellen sie auch die Hintermänner der Diktatur von Recep Tayyip Erdogan in Ankara.
Sonst aber haben sie mit ihren reichen finanziellen Mitteln, die nicht nur vom dafür bekannten Golfstaat Katar stammen, eine neue, leise Form des Heiligen Krieges gegen alle Anders- und Ungläubigen begonnen, den „Sanften Dhidad“. Er konzentriert sich auf schleichende Infiltration des westlichen Bildungssystems in Sachen Islam. Dabei ist es den Muslim-Brüdern gelungen, fast die gesamte seit dem 19. Jahrhundert von hervorragenden Fachleuten aufgebaute Islamwissenschaft in verharmlosende Islampropaganda zu verwandeln. Sogar am Päpstlichen Institut für Islamkunde in Rom haben solche Tendenzen erfolgreich Eingang gefunden. Viel breiter ist noch die Öffentlichkeitswirkung dieser Islampropagierung auf dem Weg der Politikwissenschaft, wo sie sich in den Mantel soziologischer Errungenschaften der islamischen Gesellschaft hüllt.
Nicht einmal vor der renommierten „The Encyclopeadia of Islam“, die von der Niederländischen Akademie der Wissenschaften herausgegeben wird, hat der Einfluss dieses „sanften Dschihad“ Halt gemacht. Im Unterschied zu der ersten Ausgabe, die zwischen den Weltkriegen erschienen ist, und der zweiten Edition ab 1954 enthalten die Bände der von 2007 an laufenden dritten Reihe schönfärberische Tendenzen. Zum Beispiel beim Stichwort „Dschihad“. Dieses wurde 1961 noch wie folgt richtig definiert: „Dschihad – heiliger Krieg. Die Ausbreitung des Islam mit Waffengewalt ist eine allgemeine, jedem Muslim auferlegte Pflicht.“ Das entspreche aber nach dem Vorwort zur jetzigen, dritten Ausgabe, „nicht mehr dem neuesten Stand der Forschung“. Ganz im Sinn der Muslim-Bruderschaft heisst es nun: „Das arabische Wort Dschihad bedeutet ‚Bemühungʻ oder ‚Anstrengungʻ und gehört zu den Begriffen, die am häufigsten missverständlich übersetzt werden. Die oft verwendet Übersetzung ‚Heiliger Kriegʻ ist eine unzulässige Projektion eines Begriffs aus den Kreuzzügen in den Islam. Die vollständige Bezeichnung ‚al-dschihadu fiy sabil-illahʻ wörtlich: ‚die Anstrengung auf Gottes Wegʻ umfasst sowohl äussere als auch innere Aspekte des Menschen. Dschihad ist einer der Zweige der Religion [furu’ad-din] und damit eines der Handlungsprinzipen.“ Wonach es gar keinen Dschihad gäbe – wir es aber sehr wohl mit ganz realen Dschihadisten zu tun haben, wie Vergangenheit und Gegenwart deutlich zeigen …