Der am 10. Dezember 2018 verstorbene Philosoph Robert Spaemann hat 2012 in seinem Buch „Über Gott und die Welt – Eine Autobiographie in Gesprächen“ scharfsinnige Überlegungen zu Mission, Meinungsfreiheit, Toleranz und Relativismus angestellt. Sechs Jahre später scheinen seine analytisch treffsicheren Gedanken an Aktualität noch deutlich hinzugewonnen zu haben. Es gibt also genug Grund, den grossen Denker nicht zu vergessen.
In eine vom Relativismus beherrschte westliche Welt hinein, die religiösen Wahrheitsüberzeugungen zunehmend feindlich gegenübersteht, bricht der deutsche Philosoph eine Lanze für die Mission. Er lehne selbstverständlich jede Glaubensverbreitung mit dem Schwert ab. „Aber ich lehne es nicht ab, Menschen zu dem zu überreden, was ich für ihr Bestes halte.“ Dazu bringt der gebürtige Berliner ein anschauliches Beispiel: „Nehmen Sie an, ein Freund von Ihnen leidet an einer schweren Krankheit und Sie kennen ein Medikament – oder glauben ein Medikament zu kennen –, das ihm wirklich durchschlagend helfen kann. Würden Sie nicht alles versuchen, ihn zu überreden und nicht locker lassen in Ihrem Zureden: ‚Wenn du das Mittel nicht einnimmst, ist es dein Ende. Bitte nimm es.‘ (…) Ich denke, wenn Sie das nicht täten, wären Sie kein guter Freund.“
Erzwungene Aufklärung?
Als Beispiel für missionarischen Zwang nennt Spaemann die revoltierenden Studenten von 1968: „Die 68er versuchten damals, ihre Kommilitonen auf die verschiedensten Arten zu nötigen, sich ihre Propaganda anzuhören.“ Gegen den Willen der grossen Mehrheit der Studenten hätten sie einfach Vorlesungen zu Propagandaveranstaltungen umfunktioniert. Und wenn jemand gegen diesen Zwang opponiert habe, sei ihm entgegengehalten worden: „Die Leute sind ja noch nicht aufgeklärt über das, worum es geht. Und zu dieser Aufklärung müsse man sie zwingen.“
Spaemann wendet dagegen ein: „Es gehört aber zu den Menschenrechten, dass genau wie jemand versuchen darf, andere zu überreden, diese anderen das Recht haben, sich dieser Belehrung zu entziehen.“ Und auch dazu bringt der Philosoph ein ebenso herausforderndes wie treffsicheres Beispiel: „Es gibt heute Abtreibungsgegner, die in der Nähe von Abtreibungskliniken Frauen, die dorthin gehen, ansprechen und ihnen ihre Absicht auszureden suchen. Diese Versuche werden heute vielfach gerichtlich unterbunden. Zu Unrecht. Menschen, die der Meinung sind, dass hier massenhaft Tötung von Menschen stattfindet, haben das Recht zu versuchen, andere davon abzuhalten. Allerdings ist es genauso das Recht der angesprochen Frauen zu erklären, dass sie ein Gespräch über diesen Gegenstand nicht wünschen.“
Frei zu reden und zu hören
Bezüglich der Meinungsfreiheit macht Spaemann auch auf die Lage in Skandinavien und Grossbritannien aufmerksam, wo etwa schon Prediger bestraft würden, die sich die biblische Beurteilung der Homosexualität zu eigen machten. „Solange es jedermanns Recht ist, die Kirche während einer solchen Predigt zu verlassen, ist es doch das Recht des Predigers, sie zu halten, und das Recht der Gläubigen, in der Predigt über die biblische Lehre unterrichtet zu werden. Wozu gehen sie schliesslich sonst in einen christlichen Gottesdienst?“ Am Rande sei bemerkt, dass auch in der Schweiz kritische Äusserungen über Homosexualität schon bald strafrechtlich geahndet werden könnten.
Und Spaemann liefert auch die tiefere Erklärung für diese zunehmende Bedrohung der Meinungsfreiheit. Es sei heute eine weit verbreitete Vorstellung, so etwas wie Wahrheitsüberzeugungen seien für die Toleranz schädlich. „Im Namen der Toleranz wird Relativismus verlangt. Aber das ist ganz abwegig.“ Die Pflicht zur Toleranz gründe selbst in der festen Überzeugung von der Würde der Person. Aus ihr ergebe sich die Achtung vor religiösen und moralischen Überzeugungen anderer, ruft Spaemann in Erinnerung. „Die heute wachsenden Einschränkungen der Meinungsfreiheit gründen nicht darin, dass vom Mainstream abweichende Meinungen falsch sind, sondern dass sie dem Mainstream widersprechen.“
„Unsere Werte“?
Schliesslich zeichnet Spaemann, was uns besonders zu denken geben sollte, das heute gesellschaftlich vorherrschende Richtbild des moralischen Relativisten stringent zu Ende: „Der konsequente Relativist muss nicht tolerant sein – er kann sagen: Es ist alles relativ, und ich dulde keine anderen Meinungen. Ich unterdrücke sie nicht, weil sie unwahr sind, sondern weil sie nicht das ausdrücken, was ich meine. Die Haltung, die der Toleranz zugrunde liegt, ist ja selbst eine bestimmte Wahrheitsüberzeugung; wo es sie nicht gibt, kann sich jede Macht herausnehmen, Dissidententum zu unterdrücken – nicht weil es falsch ist, sondern weil es ‚unseren Werten‘ widerspricht.“
Schlicht geniale Gedanken, wie sie sich in Spaemanns Werken zu vielen Themen finden. Lesen wir also Spaemann. Machen wir uns zu Erben seines geistigen Vermächtnisses. Denn seine Bücher halten für uns und künftige Generationen noch viele Einsichten bereit, die zu kostbar sind, um sie in Vergessenheit geraten zu lassen.