„The Guardian“ sorgte am 19. Oktober 2022 mit der Veröffentlichung einer Bilderserie für Aufsehen, die angeblich die Entwicklungsstadien eines Embryos in den ersten Wochen der Schwangerschaft zeigen soll. Dass der Embryo, wie behauptet, auch in der neunten Woche mit blossem Auge nicht sichtbar sein soll, liegt daran, dass die Aufnahmen lediglich die Fruchtblase und angrenzendes Gewebe zeigen. Der Embryo selbst wurde offenbar entfernt.
Von Ursula Baumgartner
Sind Sie schwanger? Freuen Sie sich darüber? Dann herzlichen Glückwunsch – Sie tragen ein Baby in sich! Freuen Sie sich nicht? Ist die Schwangerschaft ungewollt? Dann machen Sie sich keine Sorgen – in Ihrem Uterus befindet sich nur ein Zellhaufen, der auch nach Wochen noch kaum zu erkennen und weit davon entfernt ist, ein Baby zu sein.
Auf diese kurze Formel kann man die Doppelmoral bringen, die in unserer Gesellschaft vorherrscht, wenn es um Abtreibung geht. Der Wunsch danach, eine Abtreibung zu rechtfertigen, wenn eine ungeplante Schwangerschaft eintritt, ist menschlich je nach Situation vielleicht noch verständlich. Doch wenn eine so renommierte Zeitung wie „The Guardian“ Falschinformationen verbreitet, um Frauen in falscher Sicherheit zu wiegen und nebenbei die strenger gewordenen Abtreibungsgesetze in manchen amerikanischen Bundesstaaten zu diskreditieren, ist das nichts anderes als ein Skandal.
Die Macht der Bilder
Unter dem Titel „What a pregnancy actually looks like before 10 weeks – in pictures” (Wie eine Schwangerschaft bis zur zehnten Woche tatsächlich aussieht – in Bildern) zeigt der Guardian acht Fotos, die ihm von MYA Network zur Verfügung gestellt wurden. MYA steht für „My Abortion“ (Meine Abtreibung). Auf den Bildern sieht man Petrischalen, die weisslich-durchscheinendes, etwas ausgefranst wirkendes Gewebe enthalten. An einem darunter liegenden Lineal können die Masse des Gewebes abgelesen werden, die sich von Bild zu Bild unterscheiden – je nach Schwangerschaftswoche. Laut Guardian und MYA Network handelt es sich um „alles, was bei einer Abtreibung entfernt“ wird. Der Embryo sei in der neunten Schwangerschaftswoche „mit blossem Auge nicht leicht zu erkennen“.
Nun muss man bedenken, dass die als neunte Woche gezählte eigentlich die siebte Woche der Entwicklung des Embryos ist. Schwangerschaftswochen werden ab der letzten Regelblutung gerechnet, die Befruchtung findet aber erst etwa zwei Wochen danach statt, da erst dann die nächste Eizelle herangereift ist. Auf Internetseiten wie „Swissmom“ und „Frauenärzte im Netz“, auf denen Mediziner über den Verlauf einer Schwangerschaft informieren, kann man allerdings erfahren, dass ein Embryo in oben erwähntem Stadium (also siebte oder neunte Woche, je nach Betrachtung) um die zwei Zentimeter gross ist. Wer dies mit blossem Auge nicht erkennen kann, sollte dringend einen Termin beim Augenarzt vereinbaren und seinen Führerschein abgeben, sicherlich aber keine Operationen oder auch nur medizinische Beratungen durchführen.
Die Realität hinter den Bildern
Wie aber sind diese unterschiedlichen Behauptungen nun zu erklären? Dr. Christina Francis, Vorsitzende der amerikanischen Vereinigung von Pro-Life-Gynäkologen und Geburtshelfern, identifiziert in einem Artikel der Catholic News Agency das weissliche Gewebe auf den Bildern korrekterweise als den z.T. aufgerissenen, leeren Fruchtsack. Dieser wird in späteren Stadien der Schwangerschaft als Fruchtblase bezeichnet und enthält den Embryo, bzw. den Fetus. Doch der Embryo selbst, um den sich ja die gesamte Abtreibungsdebatte dreht und dessen Entwicklung hier angeblich dokumentiert wird, fehlt auf den Bildern des Guardian. Dr. Francis vermutet: „Entweder wurde der Embryo also entfernt oder er war durch den Abtreibungsprozess so zerstört, dass er nicht mehr vom Rest des fotografierten Gewebes unterscheidbar ist.“ In jedem Fall aber wurde das Gewebe vor den Aufnahmen gewaschen, sonst müssten mindestens blutige Reste der Gebärmutterschleimhaut zu sehen sein. Schon allein deshalb ist die Behauptung des Guardian, auf den Bildern sei alles zu sehen, was bei einer Abtreibung entfernt wird, falsch.
Worüber wacht der Guardian?
„Guardian“ kann man übersetzen mit Wächter. Aber worüber wacht der Guardian? Darüber, dass die Gesellschaft „akkurate Informationen“ bekommt, wie die Ärzte von MYA Network es irritierenderweise fordern? Doch dann müsste erwähnt werden, dass der weibliche Körper nicht fast zwei Monate einer Schwangerschaft verstreichen lässt, ohne dass sich etwas Nennenswertes entwickelt. Indirekt zeigt das ja auch die Bilderserie: Der Fruchtsack, der wie erwähnt den Embryo enthält, wächst von Woche zu Woche deutlich, nämlich um etwa einen Millimeter pro Tag. Dies entspricht exakt der Wachstumsrate eines Embryos in diesem Stadium, wie sie die Ärzte bei „Swissmom“ angeben. Auch die klar erkennbaren Verästelungen, über die der Fruchtsack in der Gebärmutterschleimhaut verankert ist und Nährstoffe aufnimmt, verzweigen sich immer stärker. Diese Oberflächenvergrösserung wäre ebenfalls unnötig, wenn der leere Fruchtsack alles wäre, wie die Bilder glauben machen wollen.
Wie kann MYA-Network-Ärztin Dr. Joan Fleischman also in einem vermeintlichen Aufklärungsvideo behaupten: „Es wird Sie überraschen zu hören, dass während der ersten neun Schwangerschaftswochen kein Embryo zu sehen ist.“? Der „Stern“, der den Bericht des Guardian im deutschsprachigen Raum aufgriff, beklagt, dass in vielen Köpfen das „romantische Bild des Miniatur-Babys“ vorherrsche. Realistischer sei jedoch die Vorstellung des „unförmigen Zellklumpens, der erst nach vielen Wochen langsam Form annimmt“. Unzählige Frauen, die in der frühen Schwangerschaft die erste Ultraschallaufnahme ihres ungeborenen Kindes gesehen haben, werden sich bei diesen Absurditäten an den Kopf fassen.
Wächter oder Vormund?
Was soll also mit dieser Bilderserie und den Berichten erreicht werden? Wie kann der Guardian, wie können die Ärzte bei MYA Network davon sprechen, Fehlinformationen entgegenwirken zu wollen, während sie doch selber solche verbreiten? Um dies zu beantworten, muss man wissen, dass sich hinter MYA Network Ärzte und Aktivisten verbergen, die frühe Abtreibung als Gesundheitsfürsorge etablieren wollen. Dr. Fleischman spricht offen davon, dass sie ihren Patientinnen nach deren Abtreibungen das auf den Bildern dargestellte Gewebe zeigt, um sie zu beruhigen. Wer Frauen jedoch unter dem Deckmantel der Aufklärung irreführt, betreibt Pseudowissenschaftlichkeit der schlimmsten Sorte. Denn wenn das auf den Bildern gezeigte Material tatsächlich alles wäre, was bei einer Abtreibung entfernt würde, dann gäbe es wirklich keinen Grund zur Traurigkeit oder zur Reue danach – und natürlich auch keinen Grund, sich gegen frühe Abtreibung auszusprechen. Und dann kann man getrost, wie „Sexuelle Gesundheit Schweiz“ es tut, die Entstehung eines schlechten Gewissens nach einer Abtreibung auf Menschen im Umfeld schieben, die der Abtreibung ablehnend gegenüberstehen. Um in der Gesellschaft eine positive Einstellung zur Abtreibung zu erreichen und um Lebensschützer der Lächerlichkeit preiszugeben, wird also sogar von ärztlicher und journalistischer Seite mit unehrlichen und manipulativen Mitteln gekämpft.
„Guardian“ bedeutet übrigens nicht nur Wächter, sondern auch Vormund. Wenn der Guardian den Lesern also gefilterte Informationen liefert, kommt er seiner Funktion als Wächter nicht mehr nach, sondern stellt sich als Vehikel für Lobbyarbeit zur Verfügung. Anstatt dem Leser zuzutrauen, mit Fakten umgehen zu können, wird einseitige Meinungsbildung begünstigt. Und dann fühlt man sich als Leser wirklich bevormundet.