Es ist unbestreitbar, dass die christlichen Kirchen das Abendland während Jahrhunderten geprägt haben. Ebenso deutlich ist es, dass von dem einstigen Glanz nicht viel übrig geblieben ist. Das ehemals kulturbestimmende, abendländische Christentum hat seine visionäre und gestaltende Kraft weitgehend eingebüsst. Da und dort spricht man bereits vom nachchristlichen Europa. Müssen wir uns diesem Urteil anschliessen, oder gibt es Hoffnung auf Erneuerung?
Gerade wenn sie in die Defensive gedrängt werden, entwickelten Christen oft enorme Lebenskraft. Die bescheidenen Anfänge liessen kaum vermuten, dass aus einigen hundert Nachfolgern Jesu die grösste Weltreligion mit heute mehr als 2 Milliarden Mitgliedern werden sollte. Von Aussen betrachtet war das Experiment zum Scheitern verurteilt, als Jesus seine Leute ohne schriftliche Anweisungen zurückliess. Der Meister übertrug die Führung der von ihm initiierten Bewegung einem bunten Trupp von „Laien“ (Fischer, Zöllner, Polit-Aktivisten etc.). Diese Leiter der frühen Kirche sahen sich in Kürze riesigen Herausforderungen gegenüber. Zum einen musste das explosive Wachstum organisatorisch bewältigt werden, zum anderen gab es schnell Streitigkeiten über Lehrfragen mit Juden, Gnostikern und Irrlehrern. Erschwerend kam hinzu, dass die Christen der frühen Kirche geächtet und zeitweise blutig verfolgt wurden. Sie wurden ausgegrenzt, enteignet und hingerichtet. Es war ihnen ausserdem verwehrt, führende Stellungen in der Gesellschaft einzunehmen. So lebten sie weitgehend abseits der Öffentlichkeit.
Doch bald sollte sich beweisen, dass Jesus alles bestens vorbereitet hatte. An Pfingsten rüstete er seine Leute mit dem Heiligen Geist aus. Begeisterte Christen entwickelten nun eine ungeheure soziale Kraft durch ihre Hingabe: Lieben, Dienen, Predigen, Heilen, Lehren, Gott anbeten, Fürbitte leisten, Schwache und Kranke pflegen, Tote beerdigen. Dieser Dienst an Gott und dem Nächsten, oft unter Einsatz des eigenen Lebens, war die Meisterleistung der frühen Christen. Bis zur Konstantinschen Wende widmete sich die Kirche primär ihrem inneren Aufbau. Und, obwohl den Jesusnachfolgern politische Betätigung verboten war, eroberten sie langsam und stetig das Römische Reich.
Der Gang der Kirche durch die Jahrhunderte
Der Kontrast zwischen dem zerfallenden „Imperium Romanum“ und der aufstrebenden Kirche wurde gegen Ende der Antike immer deutlicher. So verlieh der römische Kaiser Konstantin dem Christentum im Jahre 312 n.Chr. staatliche Legitimität und leitete damit die so genannte „Konstantinische Wende“ ein, in deren Verlauf das Christentum an Einfluss im Römischen Reich gewann und schließlich im Jahr 380 zur Staatsreligion erhoben wurde. Konstantin erkannte die organisatorische Kraft der gut ausgebildeten Bischöfe und benutzte die Kirche, um seinem gebeutelten Reich wieder auf die Beine zu helfen. Kirchenleiter wurden für staatliche Verwaltungs- und Gerichtsakte beigezogen. Sie übernahmen die Erziehung der oströmischen Kaisersöhne und gewannen als hohe Beamte zunehmend Einfluss auf die Politik. Und als das Weströmische Reich 476 n.Chr. aufhörte zu existieren, war die Katholische Kirche die vitalste Erbin.
Auch im Mittelalter vollbrachten Christen viele Meisterleistungen. Die benediktinische Ordensregel „Gebet und Arbeit“ überwand selbstzentriertes Mönchstum und revolutionierte die Landwirtschaft. Die Kirche wurde zur Wirtschaftsmacht. Auch wuchs sie auf Grund ihrer missionarischen und ihrer organisatorischen Kraft weiterhin schnell. Sie war für Jahrhunderte der erste Hort der Armenfürsorge, der Krankenpflege und der Bildung. Im späten Mittelalter inspirierte sie eine Vielzahl von Künstlern zu Meisterwerken in Kirchenbau und anderen Künsten.
Mitgestaltung der Gesellschaft
Dann brachte die Reformation eine neue Kirchenfamilie. Hier wurde die Gnade als freies Gottesgeschenk neu entdeckt und den Gläubigen zugesprochen. Dieses Angenommensein bei Gott erzeugte bei vielen eine starke Begeisterung, ihren individuellen Lebensentwurf zu verwirklichen und an der Gestaltung der Gesellschaft mitzuwirken. Nun durften Christen in grösserer Freiheit die Welt erforschen, geniessen und verändern. Luther war dabei führender Theologe. Er wertete die Berufstätigkeit als Dienst an Gott auf und scheute sich nicht, politische und militärische Stellungnahmen abzugeben.
Calvins Theologie gebot den Christen fleissige und innovative Arbeit, massvollen Konsum, das Ersparen von Kapital und die Mildtätigkeit. Diese „calvinistische Arbeitsethik“ wurde zur Grundlage der enormen Wirtschaftsleistung reformierter Nationen. Weitgehend ungehindert konnte sich das erfolgreiche Model in der heutigen Weltmacht USA entwickeln, deren Verfassung 1787 die gänzliche Trennung von Kirche und Staat festlegte.
Europa heute
Dass diese US-Kirche auch heute noch eine bedeutende, öffentliche Macht darstellt, ist unbestritten. Hätten sich sonst die beiden Präsidentschafts-Kandidaten McCain und Obama bei Baptistenpastor Rick Warren eingefunden, um öffentlich zu Glaubensfragen Stellung zu nehmen? Ganz anders liegen die Dinge in Europa. Hier wurden religiöse Themen seit der Aufklärung zunehmend in den privaten Bereich abgedrängt. Zu Recht wurde gefordert, der Staat dürfe seine Bürger religiös nicht bevormunden. So zogen sich vor allem die evangelischen Kirchen mehr und mehr zurück und unterliessen es zunehmend, Einfluss auf den Gang der Politik zu nehmen. Da und dort äusserte man sich noch, doch seit dem zweiten Weltkrieg erregen die christlichen Kirchen kaum noch positives Aufsehen. Die Säkularisierung drängte ihrerseits den Einfluss der Kirche zurück. Fast scheint es, als liessen die Krisen der heutigen Gesellschaft die Gläubigen resignieren. Dabei sind die Nöte unübersehbar: Abtreibungen, der rapide Zerfall von Ehen und Familien, Konsumexzesse, massenhaft Süchte und psychische Krankheiten, Einsamkeit, Verschuldung der privaten und staatlichen Haushalte.
Leider verfügen die europäischen Kirchen aktuell über wenig kraftvolle prophetische Stimmen, die den Völkern den Ausweg aus dem Desaster weisen. Es gibt kaum nennenswerte Gegenmodelle, welche die Menschen motivieren, den Weg der Jesusnachfolge zu wählen und sich an der Gestaltung der Gesellschaft zu beteiligen. Dabei darf es nicht bleiben! Unsere Vorfahren haben uns während Jahrhunderten bewiesen, dass geistgewirkter Glaube viel Potenzial hat, das eigene Leben und die Gesellschaft radikal zu erneuern. Lassen wir uns vom Einsatz dieser Väter und Mütter neu beeindrucken! Lassen wir uns von dem Glanz, den sie ausgestrahlt haben, neu ergreifen und zur Nachahmung anreizen! Der Geist, der die Kirche einst beflügelte, ist auch heute bereit, mit uns zu arbeiten. Lasst uns loslegen!
Von Dr. Daniel Regli