Der Bund kürzt Leistungen für Familien mit schwerkranken Kindern. Von einem Tag auf den nächsten sehen sich Betroffene plötzlich mit deutlich höheren Ausgaben belastet. Was bislang die Invalidenversicherung (IV) übernahm, müssen sie nun selbst zahlen. Welche Botschaft sendet diese Entscheidung an die Gesellschaft?
Von Ursula Baumgartner
Kann man sich vorstellen, einem Querschnittsgelähmten den Rollstuhl zu entziehen? Einem Blinden den Stock wegzunehmen? Nein, das wäre grausamer Hohn seitens der Gesunden. Doch die Neuregelung der Kostenübernahme durch die IV ist im Prinzip nichts anderes. Der kleine Sohn von Melanie Hauss ist auf ein Gerät angewiesen, das ihn beim Atmen unterstützt. Im SRF berichtet sie von einer Rechnung über 900 Franken dafür, die sie nun plötzlich monatlich selbst zu begleichen hat. Eine andere Familie, die sich über die NZZ zu Wort meldet, kann sich die Sauerstoffflaschen für die schwerkranke Tochter nicht mehr leisten.
Wer darf auf die Liste?
Laut Bundesamt für Sozialversicherungen übernimmt die IV künftig nur noch bestimmte Leistungen. Diese sind in einer Liste zusammengefasst, für deren Aktualisierung jährlich drei Millionen Franken budgetiert werden. Betroffenen Familien wäre deutlich mehr geholfen, wenn diese Summe in konkrete Hilfe investiert würde. Dies umso mehr, da die IV als Ziel angibt, „versicherten Personen, die von einer Invalidität betroffen sind, die lebensnotwendigen Mittel zur Verfügung zu stellen.“
Gegen die Erstellung einer solchen Liste setzte sich das Parlament übrigens erst im Jahr 2019 zur Wehr. Dass es nun doch dazu gekommen ist, bedauert Mitte-Nationalrat Christian Lohr schwer. Er sitzt selbst im Rollstuhl, da er aufgrund eines Contergan-Schadens keine Arme und fehlgebildete Beine hat. Für betroffene Familien fürchtet er nun eine „Unterversorgung“.
Vorgeburtlicher „Qualiltätscheck“ wird verstärkt
Doch noch etwas anderes ist zu befürchten: Dass nämlich die pränatale Selektion noch schärfer werden wird. Müssen Eltern die Sorge haben, nach der Geburt eines kranken Kindes keine Unterstützung zu erhalten, werden noch mehr als bisher ihr Ungeborenes auf alle möglichen Krankheiten untersuchen lassen. Und mit der Angst vor finanziellen Schwierigkeiten werden sich wiederum mehr Paare für die Abtreibung eines kranken Kindes entscheiden. Kosten für die Tests, die beispielsweise eine Trisomie 21 diagnostizieren können, übernehmen grösstenteils die Krankenkassen. Dass daraufhin fast alle „Down-Syndrom-Kinder“ abgetrieben werden, ist kein Geheimnis mehr. Und auch diesen Eingriff trägt zumindest zu einem Teil die Krankenkasse.
Welche Botschaft sendet also der Bund über die Neuregelung der IV an Familien? „Wir bieten: Qualitätscheck und auf Wunsch Tötung deines ungeborenen Kindes. Wir bieten nicht: sichere Unterstützung für ein Leben mit dem kranken Kind im notwendigen Ausmass.“
Das ist an Zynismus kaum zu überbieten.