Setzen sich evangelikale Gemeinden auf dem „Markt der Religionen“ durch? Dieser Frage ging die promovierte Soziologin Julia Steinkühler, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Sozialwissenschaftlichen Institut (SI) der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), nach. In einer repräsentativen SI-Studie wurden neben den Gliedkirchen der EKD erstmals auch evangelische Freikirchen und landeskirchliche Gemeinschaften befragt.
Wie Julia Steinkühler in der aktuellen Ausgabe von „SI Kompakt“ schreibt, entstünden durch die sinkende Bindungskraft der Menschen an die evangelische Kirche und den zunehmenden Mitgliederschwund viele Probleme in den örtlichen Gemeinden. In der Studie werde danach gefragt, wie die Gemeinden mit dieser Situation umgehen und welche Handlungsperspektiven sie dahin gehend wahrnehmen. Ebenso würden die Folgen für ihr Selbstverständnis und die Einschätzung eigener Entwicklungsmöglichkeiten beleuchtet.
Breit angelegte Studie
Es handele sich dabei um eine breit angelegte repräsentative Studie, die alle Gliedkirchen der EKD umfasse. Darüber hinaus konnten erstmals auch evangelische Freikirchen und landeskirchliche Gemeinschaften befragt werden. Das wäre in Deutschland in dieser Form bislang einmalig und biete ganz neue Möglichkeiten, die religiöse Vielfalt der evangelischen Gemeinden darzustellen und diese miteinander zu vergleichen. Daneben sei es gelungen, neue Gemeindeformen wie die „Fresh-X-Bewegung“ für die Teilnahme an der Studie zu gewinnen. Damit wäre es gelungen, erste Erkenntnisse zu sammeln, ob mit den alternativen Formen von Kirche den zunehmenden Herausforderungen für Kirchen entgegengetreten werden könne.
Neben der Befragung in den 20 Landes- und Gliedkirchen der EKD wurden Stichproben bei den landeskirchlichen Gemeinschaften aus dem Bereich des Gnadauer Gemeinschaftsverbandes genommen. Bei den freikirchlichen Gemeinden handle es sich hauptsächlich um jene, die als Mitglieder und Gastmitglieder der Vereinigung evangelischer Freikirchen (VEF) angehören, darunter die Freikirche der Siebenten-Tags-Adventisten. Darüber hinaus wurden die Religiöse Gesellschaft der Freunde (Quäker) und das Apostelamt Jesu Christi (Neuapostolische Kirche) in die Untersuchung einbezogen. Auch zwei konfessionelle Freikirchen, die Evangelisch-altreformierte Kirche und die Selbstständige Evangelisch-Lutherische Kirche (SELK), konnten befragt werden. Insgesamt ergibt sich damit eine Stichprobe von 16 verschiedenen Freikirchen.
Stärkere Mitgliederbindung
Erste Analysen hätten gezeigt, so Steinkühler, dass die evangelikalen Gemeinden eine stärkere Mitgliederbindung und insgesamt ein aktiveres Gemeindeleben aufweisen als die Gemeinden der evangelischen Landeskirchen. Das äussere sich beispielsweise in den Teilnahmezahlen an den Gottesdiensten und regelmässigen Gemeindeaktivitäten. Während in den evangelischen Landeskirchen nur rund drei Prozent der Kirchenmitglieder am wöchentlichen Gottesdienst teilnehmen, seien dies in den Freikirchen 40 Prozent und in den landeskirchlichen Gemeinschaften 57 Prozent. Auch die Beteiligung der evangelikalen Gemeinden an sozialen und humanitären Projekten ausserhalb ihrer Gemeinde sei höher als in den Landeskirchen. Ebenso würden öfter Aktivitäten für die eigenen Gemeindeglieder, wie gemeinsame Mahlzeiten, Ausflüge oder Wochenenden organisiert.
Attraktive Angebote
Viele freikirchliche Bewegungen wären beliebt, weil sie den Menschen attraktive Angebote machten. Sie stellten sich vielfältig auf und böten für alle Altersgruppen und Lebenskontexte spezifische Aktivitäten an, die dazu führten, dass sich die Menschen auch langfristig an die jeweilige Kirche oder Gemeinde binden. Man müsse hier jedoch zwischen den verschiedenen Freikirchen differenzieren, gab Julia Steinkühler zu bedenken. Während vor allem pfingstlerisch-charismatische Bewegungen starken Zuspruch erhielten, würden die konfessionellen Freikirchen, wie die Altreformierte Kirche und die SELK, aber auch zum Teil klassische Freikirchen, wie die Mennoniten oder die Herrnhuter Brüdergemeine, den gleichen Trend der sinkenden Mitgliederzahlen wie die Gemeinden der Landeskirchen aufweisen, wenn auch in einem geringeren Ausmass.
Aktive Mitglieder
In der Datenauswertung werde laut Steinkühler ersichtlich, dass die Landeskirchen durchschnittlich zwar deutlich mehr Mitglieder pro Gemeinde aufweisen als die evangelikalen Gemeinden, es sich jedoch oftmals um passive Mitgliedschaften handle. Das zeige sich nicht nur am prozentualen Anteil der aktiven Mitglieder in der Gemeindeleitung, sondern auch im Anteil der Ehrenamtlichen in den Gemeinden, der in den landeskirchlichen Gemeinschaften um ein Neunfaches und in den Freikirchen um ein Fünffaches höher sei als in den Landeskirchen. Auch der durchschnittliche Zeitaufwand der Leitungsmitglieder für die Gemeindearbeit wäre in den Landeskirchen deutlich geringer als in den evangelikalen Gemeinden.
Man müsse hier jedoch auch berücksichtigen, dass die Verbindlichkeit der Mitgliedschaft in Freikirchen aufgrund der eigenen bewussten Zugehörigkeitsentscheidung stärker sei als in den Landeskirchen, zu denen ein Grossteil der Mitglieder aufgrund von Kindestaufe gehöre. Zudem hätten die Gemeinden in den Landeskirchen mehr hauptamtliches Personal und eine Verwaltung auf mittlerer Ebene, die Arbeiten erledigen, die in freikirchlichen Gemeinden mit weniger Personen durch Ehrenamtliche erfolgen müsse.
Weitere Auswertungen der Studie: unter www.siekd.de
Das SI ist 2004 aus der Zusammenführung des Sozialwissenschaftlichen Instituts in Bochum mit dem Pastoralsoziologischen Institut der Landeskirche Hannovers hervorgegangen. Es begleitet und kommentiert aktuelle Entwicklungen in Kirche und Gesellschaft und es forscht, publiziert und referiert über Gegenwart und Zukunft sozialer Gerechtigkeit, wobei Perspektiven von Kirche und Religion in der Gesellschaft beleuchtet werden.
Quelle: APD