„Autismus ist ein sehr komplexes Phänomen“ weiss Anita Rohrer-Michlig. Sie ist nicht nur selbst betroffen und Mutter zweier Kinder im Autismus-Spektrum, sondern arbeitet auch mit Kindern und Jugendlichen, die in diesen Bereich fallen. Deren Nervensystem, erklärt Rohrer-Michlig, kann Informationen aus der Umwelt oft sehr viel detaillierter wahrnehmen als das sogenannter „neurotypischer“ Menschen. Daher sind autistische Menschen schneller durch Reizüberflutung überfordert. Im Interview mit Ursula Baumgartner von Zukunft CH erzählt Anita Rohrer-Michlig von ihrer Arbeit als Geschäftsführerin von „InsideAut“.
Zukunft CH: Sie arbeiten mit jungen Menschen im Autismus-Spektrum. Mit welchen grundsätzlichen Problemen treten diese an Sie heran?
Rohrer-Michlig: Menschen im Autismus-Spektrum gehören in unserer Gesellschaft einer Minderheit an. Gesetze und Strukturen richten sich jedoch nach der neurotypischen Mehrheit. So liegt es auf der Hand, dass Menschen im Autismus-Spektrum im Grunde genommen zwei Möglichkeiten haben: Sie richten sich nach den Gepflogenheiten der Mehrheit, was in aller Regel mit einem sog. Masking, d.h. mit einem enormen Kraftaufwand einhergeht und über kurz oder lang zu Erschöpfungszuständen bis hin zu einem sog. autistischen Burnout führen kann; oder aber sie richten sich nach den eigenen Bedürfnissen und/oder Möglichkeiten und übertreten somit Regeln oder Gesetze – auch ungeschriebene! Letzteres zieht sehr oft unliebsame Konsequenzen nach sich, was die Menschen im Autismus-Spektrum wiederum einem enormen Druck aussetzen kann. So oder anders, die Betroffenen oder auch Personen aus ihrem Umfeld treten an mich heran, wenn sie an ihre Grenzen stossen und deshalb Unterstützung brauchen.
Zukunft CH: Sie sind Geschäftsführerin von „InsideAut“. Können Sie uns erklären, was das genau ist?
Rohrer-Michlig: Eigentlich ist der Name „InsideAut“ Programm: Es geht darum, das Innenleben von Menschen im Autismus-Spektrum zugänglich zu machen, damit die Betroffenen sich selbst, aber auch das Umfeld sie besser verstehen kann. Darauf lassen sich schliesslich Wege und Strategien aufbauen, so dass die Betroffenen ihren Alltag besser bewältigen können.
Zukunft CH: Sie unterstützen Jugendliche im Autismus-Spektrum bei schulischen Schwierigkeiten jeder Art. Wie kamen Sie dazu?
Rohrer-Michlig: Ich bin ausgebildete Sekundarlehrerin wie auch Gymnasial- resp. Berufsfachschullehrerin und verfüge über langjährige Berufserfahrung auf beiden Stufen. So war für mich bereits klar, als mein Sohn seine Diagnose erhielt, dass ich ein Angebot schaffen wollte, mit welchem ich die Schnittstelle zwischen der Sekundarstufe 1 (Volksschule) und der Sekundarstufe 2 (Berufsausbildung resp. Gymnasium) abdecken kann. Aus persönlicher Erfahrung wusste ich, dass es auf diesen beiden Stufen wenige bis keine Angebote für Menschen im Autismus-Spektrum gibt und dass das Verständnis für solche Jugendliche wenig bis kaum vorhanden ist.
Nachdem ich mich also autodidaktisch sehr stark mit dem Thema Neurodivergenz, sprich Autismus, AD(H)S, Hochsensitivität, Hochbegabung etc. auseinandergesetzt hatte, absolvierte ich in einem ersten Schritt an der Hochschule für Heilpädagogik HfH in Zürich das Modul „Autismus im Kontext der Schulischen Heilpädagogik“. Zuerst beabsichtigte ich noch, mich als Schulische Heilpädagogin weiterzubilden, doch ich merkte bald, dass diese Ausbildung für meine Bedürfnisse und mein Verständnis der ganzen Thematik zu stark auf unser Schulsystem ausgerichtet war.
Später absolvierte ich demnach am Institut für Humanistische Kunsttherapie die Ausbildung zur zertifizierten Maltherapeutin POM IHK sowie an der Praxis für Lösungsimpulse das CAS Autismus Coach. Zudem belegte ich am Schweizerischen Institut für Psychotraumatologie SIPT verschiedene Module aus dem Curriculum der Traumapädagogik. Auf diese Weise konnte ich mir ein Päcklein schnüren, das es mir nun erlaubt, für Jugendliche im Autismus-Spektrum ein vielseitiges und flexibles Angebot zu schaffen, um sie primär im Übertritt von der Sekundarstufe 1 zur Sekundarstufe 2 zu begleiten, zu beraten und zu unterstützen.
Zukunft CH: Was brauchen Jugendliche im Autismus-Spektrum?
Rohrer-Michlig: Der Bedarf dieser Jugendlichen ist sehr unterschiedlich und individuell. Die einen brauchen schulisch Unterstützung, weil sie sich im öffentlichen Schulsystem nicht zurechtfinden und so den Anschluss verlieren. Andere brauchen Unterstützung bei der Berufswahl. Wieder andere haben ihre Diagnose ganz neu und müssen sich zuerst einmal damit zurechtfinden… Und nicht nur die Betroffenen selbst, auch ihr Umfeld – Eltern, Geschwister, Lehrpersonen, Berufsbildner etc. – sind oft in vielen Fragen überfordert und brauchen genauso Unterstützung wie der Betroffene selbst. Ich sehe mich da im Prinzip wie eine Art Dolmetscherin.
Zukunft CH: Auf welche Weise hilft eine Therapie, wie Sie sie anbieten, Menschen mit Autismus?
Rohrer-Michlig: Ich biete in dem Sinn ja nicht eine gezielte Therapie an, sondern begleite die betroffenen Jugendlichen mit verschiedenen methodischen Ansätzen. Mal bin ich Nachhilfelehrerin, mal bin ich Dolmetscherin, mal bin ich Maltherapeutin, mal bin ich Gesprächstherapeutin, mal bin ich Beraterin…
Alles in allem bin ich Autismus-Coach, d.h. meine Aufgabe besteht darin, Jugendlichen im Autismus-Spektrum zu helfen, dass sie sich mit ihrer Diagnose in ihrem Alltag zurechtfinden und damit ein erfülltes Leben führen können. Dank meiner sehr vielseitigen Ausbildungen und Erfahrungen kann ich im Rahmen dieser Aufgabe recht flexibel in verschiedene Rollen schlüpfen und da unterstützen, wo der Schuh drückt.
Zukunft CH: Was, würden Sie sagen, ist der Kernpunkt dieser Aufgabe?
Rohrer-Michlig: Ein ganz wesentlicher Aspekt meiner Arbeit besteht darin, dass Jugendliche an der Schnittstelle Sek 1/Sek 2 sich in einer Lebensphase befinden, in der es sehr stark darum geht, sich vom Elternhaus abzulösen und Unabhängigkeit zu gewinnen. Das Dilemma der Jugendlichen im Autismus-Spektrum liegt allerdings sehr oft darin, dass sie wenig bis keinen Anschluss an Gleichaltrige haben und sich deshalb sehr stark auf ihre Eltern als nächste Bezugspersonen abstützen. Im Übergang ins Erwachsenenleben kann aber eine zu enge Koppelung zwischen Eltern und Jugendlichen zu Konflikten oder schwierigen Situationen führen, in denen es wertvoll ist, wenn eine aussenstehende Person die Rolle der Bezugsperson übernehmen kann. Da setzt dann meine Arbeit an.
Andererseits aber geht es – je nach Fall – auch darum, eine Brücke zwischen dem betroffenen Jugendlichen und seinem Umfeld zu schaffen. Es kommt nicht selten vor – insbesondere bei Mädchen! –, dass sie ihre Diagnose erst im Jugendalter erhalten. In diesen Fällen spielt die Psychoedukation sowohl beim Jugendlichen als auch beim Umfeld eine ganz zentrale Rolle. Viele Verhaltensmuster, auf physischer und psychischer Ebene, stehen dann plötzlich in einem völlig anderen Licht da und müssen neu eingeordnet werden. Da kommt es im Coaching sehr oft vor, dass sogar Eltern Aha-Erlebnisse haben, weil sie plötzlich bestimmte Verhaltensmuster ihres Kindes „begreifen“ können. Sprich: Vieles wird „fassbar“, was vorher „unfassbar“ war. Das hilft dann oft auch, Beziehungen, die mitunter lange gelitten haben, neu zu definieren und zu festigen wie auch die Betroffenen zu stabilisieren.
Zukunft CH: Viele Menschen erfahren erst im Erwachsenenalter, dass sie zum Autismus-Spektrum gehören. Profitieren sie dann auch noch von einer Therapie?
Rohrer-Michlig: In diesen Fällen kommt es ganz darauf an, welche Vorgeschichte und welche Grundvoraussetzungen der Betroffene mitbringt. Eine Therapie macht schliesslich nur dann Sinn, wenn der Betroffene ein Anliegen hat, das sich mit der entsprechenden Therapie überhaupt behandeln lässt. Grundsätzlich, denke ich, wäre es falsch zu behaupten, man könne Autismus wegtherapieren. Das braucht es auch gar nicht. Aber wie ich bereits erwähnt habe, ist es wichtig, dass gerade Menschen im Autismus-Spektrum ihre persönliche Achtsamkeit trainieren und lernen, sich für ihre Bedürfnisse gezielt und bestimmt einzusetzen.
Körperbetonte Therapieansätze oder auch mal- oder generell kunsttherapeutische Interventionen können das mitunter sehr gut unterstützen. Natürlich ist das aber auch immer abhängig davon, ob dieser Mensch überhaupt eine Therapie hierfür braucht, und wenn ja, worauf sich der Betroffene überhaupt einlassen kann oder will. Das ist bei autistisch veranlagten Menschen im Grunde genommen nicht anders als bei Neurotypen auch, und zwar altersunabhängig.
Ich kenne allerdings auch diverse Erwachsene, bei denen ich die Hand ins Feuer legen würde, dass sie im Autismus-Spektrum sind, die aber ein glückliches und erfülltes Leben führen und somit meilenweit von einer Therapie entfernt sind. Ausserdem kommt es nicht selten vor, dass Eltern eher beiläufig oder zufällig durch ihre Kinder erfahren, dass sie selbst im Autismus-Spektrum sind. In manchen Fällen hilft dann schon die Diagnose an und für sich, dass sich diese Leute besser verstehen können. In anderen Fällen wirft gerade die Diagnose sie völlig aus der Bahn und es braucht therapeutische Unterstützung, damit diese Menschen wieder Boden unter den Füssen gewinnen.
So oder anders, ob ein Mensch von einer Therapie oder einem Coaching profitiert, hängt von ganz vielen Faktoren ab, allen voran von ihm als Individuum ganz persönlich. Das Alter spielt in aller Regel keine Rolle.
Zukunft CH: Vielen Dank für das Gespräch!
In einem weiteren Interview umreisst Anita Rohrer-Michlig das Phänomen Autismus und erklärt, mit welchen Herausforderungen Menschen im Autismus-Spektrum zu kämpfen haben.
Weitere Informationen zur Arbeit von Anita Rohrer-Michlig finden Sie unter insideaut.ch.