Der 19. Mai 2022 war ein brisantes Datum für Sterbehilfeorganisationen wie Exit. An diesem Tag entschied die Ärztevereinigung FMH, dass die Neuformulierungen der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) „bezüglich des Umgangs mit Sterben und Tod“ in die Standesordnung aufgenommen werden sollen. Zu Deutsch: Im Bereich der ärztlich assistierten Sterbehilfe gelten nun neue Richtlinien. Exit protestiert dagegen.
Von Ursula Baumgartner
Es sieht fast aus wie normales Kochsalz, doch seine Wirkung ist weitaus prekärer: Natrium-Pentobarbital ist ein farbloser oder weisser Feststoff, der z.B. von Veterinären zum Einschläfern alter oder kranker Tiere verwendet wird. Aber auch bei ärztlich assistiertem Suizid kommt er zum Einsatz für Sterbewillige, die einen selbstbestimmten Tod anstreben. Doch darüber, wann und unter welchen Umständen Stoffe wie dieser künftig zum Einsatz kommen dürfen, gibt es verschiedene Ansichten. Die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) hat neue Richtlinien ausgearbeitet, die künftig für mehr Klarheit sorgen und Ärzten Rechtssicherheit geben sollen, wie Josef Widler, der Präsident der Zürcher Ärztegesellschaft, sagt. In einer Stellungnahme vom 4. Mai 2022 kritisiert die Sterbehilfeorganisation Exit die neuen Bestimmungen.
Das Ende des „Bilanzsuizids“
Aus Sicht der SAMW müssen bei einem Patienten schwerwiegende Krankheitssymptome und Funktionseinschränkungen vorliegen, damit er einen ärztlich assistierten Suizid in Anspruch nehmen kann. Hierin sieht Exit eine unzulässige Einschränkung der Patientenrechte und eine Verunsicherung der Ärzte. Auch der „Bilanzsuizid“ oder Altersfreitod würde damit unmöglich gemacht, da Suizidbeihilfe bei gesunden Personen von der SAMW als „ethisch nicht vertretbar“ eingestuft wird. Exit meint, dass die „liberale Praxis, die sich in den letzten 40 Jahren bewährt hat“, durch die neuen Auflagen unter Druck gerate. Wenn dem so ist, darf man sich allerdings fragen, aufgrund welcher Umstände Patienten denn in diesen besagten 40 Jahren ihrem Leben ein ärztlich assistiertes Ende gesetzt haben. Wo zog man bisher die Grenze, wenn offenbar keine entsprechende Diagnose und Prognose vorliegen musste?
Auch dass der Wunsch des Patienten nach Sterbehilfe für den betreuenden Arzt nachvollziehbar sein muss, scheint für Exit unverständlich, da allein der Patient entscheiden könne, wie schwerwiegend ein Leiden sei. Aber sollte ein Arzt, der Patienten in einer so sensiblen Phase ihres Lebens begleitet, nicht zu ausreichender Empathie fähig sein, so dass er in der Lage ist, zu erkennen, wie es auch bisher in den Richtlinien hiess, dass eine Krankheit oder Funktionseinschränkungen für den Patienten „Ursache unerträglichen Leidens“ ist?
Gespräche und andere Schwierigkeiten
Damit der Arzt dies sicher leisten und sich auch vom Anhalten des Sterbewunsches überzeugen kann, sollen nach den neuen Regeln „mindestens zwei ausführliche Gespräche“ zwischen Arzt und Patient „im Abstand von mindestens zwei Wochen“ stattfinden. Als „sachlich nicht gerechtfertigt und unnötig“ beurteilt Exit diese Forderung. Exit-Präsidentin Marion Schafroth befürchtet, dass durch die Neuerungen „die einzelne Abklärung für eine Freitodbegleitung aufwändiger, komplizierter, länger und schwieriger für die Beteiligten“ werden könnte. Gerade bei Patienten, die erst in ihren letzten Lebenstagen um Hilfe beim Sterben bitten, sei diese Verzögerung unzumutbar. Doch anstatt hier das Kind mit dem Bade auszuschütten, sollte bedacht werden, dass schwerkranke Patienten ja ohnehin über einen längeren Zeitraum in ärztlicher Behandlung sind und ein eventueller Sterbewunsch aufgrund einer Verschlechterung des Zustands wohl kaum jemals ganz plötzlich auftritt – es sei denn, in einem Aufwallen von Verzweiflung. Müsste man dann aber konsequenterweise nicht bereits einen einmaligen, vielleicht panischen Ausruf „Ich wünschte, ich wäre tot!“ als Sterbewunsch interpretieren und ihm nachkommen? Dies kann langfristig nicht im Sinne eines Patienten oder seiner Angehörigen sein. Doch auch die Forderung, dass letztere bei einer Freitodentscheidung einbezogen werden, ist Exit ein Dorn im Auge. Dass Kinder, Geschwister oder Ehepartner des Patienten dann dessen freiwilligen Tod verarbeiten und betrauern müssen, rechtfertigt nach Ansicht von Exit offenbar nicht, dass ihre Bedürfnisse vorher berücksichtigt werden, im Gegenteil: dadurch würde das „Recht auf Selbstbestimmung eines sterbewilligen Menschen (…) ad absurdum geführt“.
Alternativlos?
Doch besonders sprachlos macht einen die Reaktion seitens Exit auf folgende Sätze von SAMW: „Medizinisch indizierte therapeutische Optionen sowie andere Hilfs- und Unterstützungsangebote wurden gesucht, mit dem Patienten abgeklärt und angeboten. Sie sind erfolglos geblieben oder wurden vom diesbezüglich urteilsfähigen Patienten abgelehnt.“ Wenn also bereits die Frage nach einem Freitod im Raum steht, nach der absoluten Ultima Ratio, wäre es da nicht wünschenswert, dass dem Schwerstkranken tatsächlich alle anderen Möglichkeiten dargelegt werden? Nein, sagt Exit. Dies „stiftet Verwirrung und verursacht Schwierigkeiten. Denn selbstverständlich hat ein aufgeklärter und urteilsfähiger Patient das Recht, diese Alternativen abzulehnen, ohne dass sie konkret angeboten und auf Erfolg ausprobiert wurden.“
Wie aber soll jemand Alternativen ablehnen, die er vielleicht gar nicht kennt? Könnte nicht allein das Aufzeigen von anderen Therapien dem Patienten wieder gerade das Quäntchen Hoffnung schenken, das er braucht, um weiterzuleben und seine Krankheit weiter zu ertragen? Und bedeutet diese Aussage von Exit, dass der Arzt nicht verpflichtet werden können soll, auf Alternativen hinzuweisen, oder dass eine solche Beratung durch den Arzt früher oder später bereits als unzumutbare Belastung des Patienten empfunden wird, da dieser in seiner schon feststehenden Entscheidung beirrt wird? Spätestens dann jedoch hätte sich das Berufsbild des Arztes in sein absolutes Gegenteil verkehrt – vom Heiler und Lebenserhalter zum Todbringer auf Wunsch. Der Arzt wird zum Dienstleister degradiert, der auf Bestellung Sterbemedikamente freizugeben, ansonsten jedoch nicht weiter nachzufragen oder Beratung anzubieten hat.
Was ist die Folge?
Der Wunsch nach Leidensminimierung und die Angst vor einem qualvollen, schmerzhaften Tod oder – vielleicht noch schlimmer! – vor einer Krankheit ohne baldigen erlösenden Tod wie z.B. eine Behinderung sind nur allzu menschlich und verständlich. Aber drehen wir doch den Spiess einmal um. Ginge es nach Exit, müssten Patienten begleiteten Suizid begehen können ohne ärztliche Diagnose, ohne objektiv festgestellte, schwerwiegende Funktionseinschränkungen, ohne klärende und beratende Gespräche über einen gewissen Zeitraum hinweg, ohne Aufzeigen und Prüfen von Alternativen und ohne Rücksicht auf die Angehörigen. Ein Kind, eine Ehefrau müsste sich im Ernstfall damit abfinden, dass ein Elternteil oder der Ehemann sich ohne Bedenkzeit und ohne Rücksprache beispielsweise aufgrund einer Krankheitsdiagnose entschliesst, sein Leben zu beenden. Sollen Kinder um ihre Oma trauern müssen, weil diese nach einem Schlaganfall nicht im Rollstuhl weiterleben will, in dem sie aber doch weiter ihre wunderbaren Weihnachtsguetzli backen und den Kindern so lebhaft vorlesen könnte? Und wenn wir es zur Normalität werden lassen, dass sich „polymorbide, hochbetagte Sterbewillige“ ohne todbringende Erkrankung für eine Sterbebegleitung entscheiden, wie lange wird es dauern, bis die Euthanasie für alte, gebrechliche Menschen auch ohne deren Zustimmung die gängige Praxis wird? Wollen wir es hierzulande so weit kommen lassen wie kürzlich in Kanada, wo eine chronisch, aber nicht tödlich kranke Frau um Sterbehilfe bat (und zugesprochen bekam!), weil ihr Wohngeld nicht reichte, um ihr die Wohnumgebung zu verschaffen, die ihr Leiden hätte lindern können?
Der Name „Exit“ mag als Abkürzung von „Exitus“ gemeint sein, dem medizinischen Fachbegriff für den Tod. Doch möge man bitte nicht vergessen, in welchem Zusammenhang uns „Exit“-Schilder im Alltag begegnen: nämlich bei einem Fluchtweg oder einem Notausgang. Und betrachtet man die Forderungen von Exit, so liegt der Schluss nahe, dass der als Selbstbestimmung verkaufte assistierte Freitod sehr oft nichts anderes ist als die Flucht vor einem zu schwer gewordenen Leben.