Als im Jahr 1481 die Weihnachtsglocken den Frieden auf Erden verkündigten, hatte das für die Eidgenossen einen besonderen Klang. Zwei Tage zuvor war an der Tagsatzung in Stans in allerletzter Minute der alte Bundesbrief von Sempach erneuert worden. Der Bruderkrieg, den die einen gefürchtet und andere betrieben hatten, war verhindert. Es sollte sich zeigen, dass das „Stanser Verkommnis“ die Eidgenossenschaft durch alle Wechsel der Zeiten hindurch zu tragen vermochte. Auch als die Schweiz zu einem modernen Bundesstaat wurde, blieben wesentliche Grundzüge bestehen. Bis heute hat das unserem Land einen Frieden geschenkt, wie das sonst keinem anderen Land in Europa gegeben war.
Damals war die junge Eidgenossenschaft zu einer europäischen Grossmacht geworden. Auf den Schlachtfeldern hatte sie den vernünftig zielgerichteten Willen des aufstrebenden Burgunderkönigs gebrochen. Unerhörte Reichtümer strömten ins Land. Doch eben dieser Wohlstand drohte die Gemeinschaft zu zerstören. Eine schicksalsschwere Entscheidung stand an. Die beiden Städte Fribourg und Solothurn hatten mit den Eidgenossen gekämpft. Jetzt sollten sie als vollberechtigte Mitglieder in den Bund aufgenommen werden. Das bedrohte das Gleichgewicht. Alle spürten: Die Zukunft gehört dem Handwerk, dem Handel, den Volksmassen, dem flüssigen Geld. Die Zukunft gehört der Stadt. Wenn aber neu im eidgenössischen Bund fünf prosperierenden Städte fünf Landorten gegenüberstünden, wären die Länder bald einmal nur noch Ränder. Über zwei Jahre lang wurde verhandelt. Hin und her ritten die Boten mit immer neuen Vertragsentwürfen. Mehrere Tagsatzungen suchten den rettenden Konsens.
Der Vermittler
In all diese Verhandlungen war ein Mann involviert, dessen Name weit herum bekannt war. In Nidwalden, erzählte man, lebe ein lebendiger Heiliger. Tag und Nacht versenke er sich in das Leiden Christi. Niklaus von Flüe, Bruder Klaus genannt, hatte nach harten inneren Kämpfen seine Familie verlassen. In der Einsamkeit in der Melchaaschlucht war ihm eine stille Autorität zugewachsen. Ihm traute man zu, dass er über den Fronten stehe und ohne eigene Interessen nichts als das wahre Wohl des Landes suche. Der Stadtschreiber von Bern, der Schultheiss von Luzern und die innerschweizer Amtsleute suchten seinen Rat.
Die Tagsatzung
Ende Dezember war es so weit. Das neue Bündnis sollte beschworen werden. Aber die Verhandlungen in Stans nahmen eine unglückliche Wendung. Je länger sie dauerten, umso bitterer wurden die Wortwechsel. Am Abend des 21. Dezembers gingen die Abgeordneten auseinander, fest entschlossen, nun die Waffen sprechen zu lassen. Früh am Morgen klopfte der Pfarrer von Stans an die Türen der Wirtshäuser und bat flehentlich darum, dass man noch einmal zusammenkomme. Er habe einen Rat von Bruder Klaus. In der Nacht hatte er den langen Weg zum Einsiedler gemacht und brachte eine letzte Mahnung von ihm mit sich. Die Abgeordneten folgten der Bitte. Und noch vor dem Mittag waren die neuen Bundesbriefe aufgesetzt und besiegelt! Damit, heisst es im Tagsatzungsprotokoll, könne man nun „heimbringen die Treu, Mühe und Arbeit, die der fromme Bruder Klaus in diesen Dingen getan hat“. Niklaus von Flüe wurde als der Stifter des Friedens gesehen, als der Retter der Eidgenossenschaft. Es gibt gute Gründe, in ihm den geistigen Vater der Schweiz zu sehen.
Grosse Rechte für die Kleinen
Das Stanser Verkommnis ist ein Bundesvertrag ganz im Geist der damaligen Zeit. Es sichert Besitzstände und wehrt dem Aufruhr. Aber bei all dem gibt es etwas Besonderes: Die Kleinen erhalten zu grosse Rechte. Das gilt bis heute. Uri darf zwei Ständeräte nach Bern schicken, die alte, stolze und reiche Stadt Basel nur einen. Ist das gerecht? Nein, es wäre ungerecht – wenn Gerechtigkeit Gleichheit bedeuten würde. Wenn aber die Gerechtigkeit auch Rücksicht nehmen will auf den geschichtlichen Weg, den eine Gemeinschaft geführt worden ist, und wenn der Schutz der Geringen ein höchstes Gut ist: Dann kann die Ungleichheit der Gerechtigkeit dienen.
Stadt und Land
Der Friede von Stans gibt den Landorten zu grosse Rechte und schützt so das Ländliche vor der städtischen Übermacht. Damit gibt er einem zentralen biblischen Anliegen Raum. In der Bibel steht die Stadt zuerst einmal für die menschliche Überheblichkeit. Kain baut sich eine Stadt. Der Turm zu Babel soll mit glatt gestrichenen Ziegeln den Himmel erobern. Stadtluft macht frei. Alles scheint machbar. Das Planen, Konstruieren und Rechnen ersetzt den Segen des Schöpfers. Umso erstaunlicher ist es, dass am Ende der Bibel die Vision einer neuen Stadt steht. In ihr finden alle Schätze der Völker ihren wahren Wert. Doch diese Stadt gleicht einer Braut! Sie ist nichts, was Menschen bauen können! Jesus selber vergleicht das Reich Gottes mit einem Kaufmann, einem Fischernetz, einem Hausbau – aber auch mit einem Sämann, einem Acker, einem Senfkorn. Städtisches und Ländliches sind in der Bibel zwei Momente des Lebens, die sich gegenseitig begrenzen und herausfordern. Biblisch gesehen gibt es keinen Weg zurück in den paradiesischen Garten. Es hilft nichts, die Natur zu idealisieren. Vielmehr geht es darum, über alles menschlich Eigenmächtige hinaus zu der Stadt zu finden, die Gott erbaut. In ihr kommt auch das zur Geltung, was nicht machbar ist: das organische Wachstum, das Gedeihen, und also das Warten, das Gedulden, das Erleiden.
Frieden für die moderne Zeit
Heute scheint es, als ob die Unterschiede zwischen Stadt und Land verschwimmen. Auch in den Bauernstuben surfen die Kinder im Internet. Überall sucht man möglichst glatte und effiziente Lösungen. Umgekehrt stauen sich die Autos, wenn die Stadtmenschen zurückkommen von ihren Wanderungen über die Alpweiden. Die moderne Welt ist verstrickt in den Widerspruch, dass sie zu einer einzigen grossen, globalen Stadt wird – in der alle sich zurück aufs Land sehnen. Kann es da nicht die verborgene Stärke der Schweiz sein, dass sie das Städtische und Ländliche zum Ausgleich bringt, indem sie das Schwächere institutionell stärkt? Ist das womöglich die tiefste Dimension im Frieden von Stans: dass er nicht nur die Menschen, sondern auch die Pflanzen und Tiere umfasst? Weil es der Friede ist, den Niklaus von Flüe gefunden hat, als er sich in das Leiden des Gottessohnes versenkt hat? Ist das heute unser Auftrag: Den Frieden neu zu entdecken, der im Zeichen des Kreuzes steht?
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Zum Autor: Pfr. Dr. Bernhard Rothen ist verheiratet und hat zwei Kinder. Er hat in Bern, im schwedischen Lund und in Heidelberg Theologie studiert und war Pfarrer in der Berggemeinde Zweisimmen im Berner Oberland und Münsterpfarrer in Basel; seit 2010 ist er Pfarrer der evangelischen Kirchgemeinde Hundwil AR. Zudem ist er Gründungspräsident der 1996 ins Leben gerufenen Stiftung Bruder Klaus.
Pfr. Bernhard Rothen