„Wir sind im Westen dabei, die Orientierung zu verlieren“, sagt Stefan Felber in seinem jüngst erschienenen Buch „Das Gesetz der Freiheit: Elf Predigten zu den Zehn Geboten“. Im Interview mit Geschäftsführerin Beatrice Gall von Zukunft CH erklärt der Theologe, warum die Zehn Gebote auch heute noch wichtig für unsere Gesellschaft sind.
Zukunft CH: Was meinen Sie, wenn Sie sagen, wir verlieren im Westen die Orientierung?
Felber: Die Zehn Gebote bieten ein Panorama aller gelingenden Beziehungen aller Geschöpfe, auf dieser Erde miteinander und zu Gott. Sie beginnen mit der grossen göttlichen Begnadigung und enden mit der Genügsamkeit, frei von Sorge und Neid. Da der Westen sich anderen Quellen zuwendet und die Wahlfreiheit selbst zum höchsten Wert erklärt, fehlt ihm der Einsatzpunkt: Die göttliche Gnade. Folglich gibt es auch kein Genügen mehr, vielmehr: Sorge, Neid und Fortschrittsreligion.
Zukunft CH: Haben die Zehn Gebote heute noch Bedeutung?
Felber: Ja, in vollem Umfang! Zwar hat Gott durch Jesus Christus gemäss dem Neuen Testament die Speise- und Opfergebote aufgehoben. Doch Jesus und Paulus verweisen auf die Zehn Gebote als unverbrüchlich. Zudem sind sie der von Irrtum und Sünde unbefleckte Ausdruck des natürlichen Gesetzes, d.h. der Regeln, die schon mit der Schöpfung dem Menschen gegeben waren. Auf diesen Bezug zur Schöpfung kam es mir bei jedem Gebot besonders an.
Zukunft CH: Welches Gebot halten Sie für das wichtigste?
Felber: Jedes der zehn verweist auf die anderen und enthält sie indirekt mit. Keines darf fehlen. Gleichwohl könnte man sagen, dass das erste Gebot wie ein Reiter ist, wie Luther sagte, oder wie eine Lokomotive, die alle anderen mit sich zieht: Ist dieser Gott, der mich befreit hat aus der Knechtschaft bzw. aus der Sünde, mein Gott, so werde ich alle anderen Gebote schon aus innerem Drang erfüllen. Im Alten Bund war das noch nicht möglich, weil der Heilige Geist nur Einzelnen gegeben wurde. Im Neuen Bund wird der Heilige Geist zwar jedem Gläubigen gegeben, aber auch hier bleibt der Kampf zwischen dem Heiligen Geist und dem Fleisch, dem sogenannten „alten Menschen“. Gott sei Dank, vielfach gibt es jetzt schon Sieg und Überwindung der Versuchung! Doch erst in der Neuschöpfung werden die Erretteten alle Gebote vollkommen und freudig erfüllen. Dann „… wird dir dein Volk willig folgen in heiligem Schmuck“ (Psalm 110,3)!
Zukunft CH: Sie kritisieren in Ihrem Band die Genderideologie. Warum?
Felber: Wenn Christen, die den Regenbogen schwenken, wirklich glauben, dass Gott die Liebe ist, warum lassen sie sich dann nicht von Gott sagen, was Liebe ist? Stattdessen wird von unten nach oben argumentiert – letztlich herrscht das Lustprinzip, dem keine Grenzen mehr gesetzt werden können, im Grunde die alte Baalsreligion. Die „Ehe für alle“ ist dabei nur ein Zwischenschritt: Schon beginnt die Diskussion über die „Legalisierung“ von Beziehungen zwischen drei und mehr Personen. Gott sei Dank: Die Gender-Ideologie wird nicht nur von Christen aufs Korn genommen, sondern auch von vielen anderen, auch Atheisten wie dem Evolutionsforscher Ulrich Kutschera. Die „gender-korrekten“ Sprachverbiegungen durch Behörden, Universitäten und Grosskonzerne erfahren derzeit einen besonders breiten Widerspruch speziell durch solche, die durch ihre Arbeit oder Forschung wirklich Kompetenz auf sprachlichen Gebieten besitzen (s. die Zeitschrift „Sprachnachrichten“). Die Gender- Ideologie ist letztlich Ausdruck des menschlichen Willens zur Selbst-Neuschöpfung. Der Mensch will selbst Gott sein und sein eigener Schöpfer (Homo Deus statt Deus Homo, d.h. er macht sich zu Gott, statt auf die Menschwerdung Gottes zu achten). Er will sich das Geschlecht nicht mehr vorgeben lassen, sondern so verändern können, wie er sich derzeit fühlt (rex lex statt lex rex, d.h. der König bzw. der Mensch ist sich selbst Gesetz, statt dass das Gesetz sein König ist). Die begleitenden Sprach-Korrekturmassnahmen zeigen nur an, wie tief die Krise des Menschen im Westen ist. Die Gebote sollten daher viel mehr bedacht werden.
Pfr. Dr. Stefan Felber, Jg. 1967, ist verheiratet, hat drei Kinder und doziert am Theologischen Seminar St. Chrischona in Bettingen. Seit 2017 ist er Mitglied des Stiftungsrates bei Zukunft CH. Sein aktueller Band „Das Gesetz der Freiheit: Elf Predigten zu den Zehn Geboten“ ist im Freimund Verlag erschienen und im Buchhandel erhältlich.
Dieses Interview ist im aktuellen Magazin 5/2021 von Zukunft CH erschienen. Das Magazin kann hier bestellt werden.