Immer, wenn es Herbst wird, kann die 65-jährige Koulitsa Xyda in Istanbul kaum noch schlafen. Diesmal ist es besonders schlimm. Denn in der Nacht vom 6. auf den 7. September sind es 60 Jahre her, seit die griechisch-orthodoxe Christin als Fünfjährige das Christenpogrom in der Türkei miterleben musste.
Koulitsa war schon eingeschlummert, als ihre Mutter Despoina sie aus dem Bettchen reisst: „Schnell, schnell, es geht uns ans Leben!“ Von der Pera-Strasse dringt wüster Lärm, wilde Schläge dröhnen gegen das Haustor. Im Treppenhaus wartet der türkische Offizier vom oberen Stock auf Koulitsa und ihre Mutter; auch er noch im Pyjama: „Herauf mit Euch, bevor es zu spät ist!“ Kaum haben die beiden in seiner Wohnung Zuflucht gefunden, bricht im Erdgeschoss die Hölle los: Schläge, Schmerzensschreie, klirrendes Glas und zerbrechendes Geschirr, ein letztes Stöhnen. Dann wird es still. „Gott steh der armenischen Familie unten bei!“, flüstert Koulitsas Mutter, kalkweiss im Gesicht.
Der Oberst hat sich inzwischen in Uniform geworfen. Gerade noch rechtzeitig, denn Faustschläge hämmern gegen die Wohnungstür: „Gebt uns die Christenbrut heraus!“, wird er aufgefordert. Mit gezogener Pistole stellt sich der Offizier dem Mob entgegen. So bewahrt er Mutter und Tochter vor Misshandlung, Entehrung oder gar dem Tod.
Es gab nicht viele so anständige und aufrechte Türken in dieser Schreckensnacht. Sie kostete mindestens 15 Christen – unter ihnen zwei Priester – das Leben. 35 Schwerverletzte, 75 niedergebrannte oder zerstörte Kirchen sowie Gesamtschäden in Geschäften und Wohnungen in Höhe von heute mindestens 200 Millionen Euro gehören zur weiteren Schreckensbilanz der gewaltsamen Ausschreitungen gegen Christen. Die Zahl der „Pogromgewinnler“, die sich zuerst direkt an den Ausschreitungen beteiligten und danach die eingeschüchterten Opfer um Hab und Gut brachten, war gross. Wenn wir nur von den Geschäften ausgehen, die damals von christlichen auf muslimische Eigentümer übergingen, lag die Zahl bei über 4‘000.
Das Septemberpogrom 1955 wird gern mit dem Beginn der Zypernkrise in Zusammenhang gebracht. Tatsächlich handelte es sich um die erste Manifestation des aggressiven Polit-Islam, wie er seitdem zu den Gräueln des „Islamischen Staates“ und anderer Terrormilizen ausgeufert ist. Damals hatte der türkische Regierungschef Adnan Menderes die Islamisierung eingeleitet. Die christlichen Griechen und Armenier von Istanbul waren ihre ersten Opfer. Die Ausschreitungen wurden – wie wir heute wissen – von Regierung, Geheimdienst MIT, Nationalisten und vor allem Politislamisten seit langem vorbereitet. Die angeblich spontanen Demonstranten wurden aus Landkreisen mit Bahn und Bus herbeigekarrt. Sie erhielten genau Einsatzpläne mit den Geschäften und Wohnungen ihrer Opfer. Die türkische Regierung wollte vor allem Sündenböcke, an denen sich die allgemeine Unzufriedenheit austoben konnte.
In der Schreckensnacht hat man Christen zwangsbeschnitten, viele dabei völlig entmannt. Christlichen Frauen säbelten die Fanatiker ihre Brüste ab. Von den 32 Schwerverletzten gehörten fünf Männer und 14 Frauen zu diesen grausam Verstümmelten. „Nur“ richtig Beschnittene und vergewaltigte Frauen wurden nicht als Verletzte gezählt. Doch gab es nach kirchlichen Angaben mindestens 100 Opfer sexueller Gewalt.
Von den damals über 200‘000 griechischen und armenischen Christen in Istanbul – es war bis zum Ersten Weltkrieg eine mehrheitlich christliche Stadt – verliessen um die 130‘000 die Türkei in den dem Pogrom folgenden Jahren, darunter die Familie Xyda, die 1964 floh. Vor drei Jahren ist Koulitsa Xyda nach Istanbul zurückgekehrt. Obwohl sie noch immer Angst hat. Aber: „Wir müssen unsere Kirche stärken, die sonst auszusterben droht. Es kann jeden Tag ein neues 1955 geben. Aber jede, jeder mehr in den fast leer gewordenen Kirchen zählt jetzt einfach.“ Frau Xyda steht mit diesem Einsatz nicht allein. Gerade aus der griechisch-orthodoxen Diaspora in Deutschland und der Schweiz mehren sich die Rückwanderer. Zwei von ihnen sind inzwischen am Bosporus Pfarrer geworden.
Von Heinz Gstrein