Der Versuchung beinahe erlegen! — so könnte die Geschichte der evangelikalen Christen hinsichtlich Abtreibung beschrieben werden. Doch die evangelikale Bewegung schaffte in den 70er-Jahren eine Wende, welche in eine der stärksten gesellschaftlichen Bewegungen der neueren Geschichte hineinmündet: die Pro-Life Bewegung. Angestossen wurde diese von einer kleinen Gruppe von Pionieren, deren Verdienste heute kaum gewürdigt werden.
Von Peter Bruderer, danieloption.ch
Jede Zeit hat ihre mächtigen Versuchungen, denen nur schwer widerstanden werden kann, weil sie sehr attraktiv auftreten. Menschen erliegen den Verführungen ihrer Zeit in der Regel nicht, weil sie sich auf die ‚dunkle Seite der Macht‘ schlagen wollen, sondern weil die Verführungen ihnen Lösungen zeigen, welche vordergründig als gut und richtig erscheinen. Auch die Bewegung für eine legalisierte Abtreibung präsentierte sich in einem attraktiven Kleid. Abtreibung wurde als Akt der Barmherzigkeit für Frauen und Paare in schwierigen Situationen propagiert, als Akt der Befreiung, damit Frauen über ihren eigenen Körper bestimmen könnten. Zudem stellte sie ein Instrument zur Familienplanung dar, das zu einem „Dienst an der von Hunger und Überbevölkerung bedrohten Menschheit“ hochstilisiert wurde. Beinahe wäre vor 50 Jahren die westliche, evangelikale Bewegung der Versuchung dieses Narrativs erlegen, doch eine kleine Schar Evangelikaler mit Klarsicht und leidenschaftlicher Entschlossenheit ändert den Kurs der ganzen Bewegung. Mit Francis Schaeffer, Harold O.J Brown und Kinderarzt C. Everett Kopp gehörten zu dieser Schar auch drei Personen mit Bezug in die Schweiz. Eine erstaunliche, aufrüttelnde und lehrreiche Geschichte.
Der unterschriebene Vorvertrag
Es ist schwierig, im Nachhinein den Geist der späten 60er- und frühen 70er-Jahre in Worte zu fassen. Aber Folgendes kann man wohl sagen: Der Duft von Revolution und radikaler Neuorientierung lag in der Luft. Neue Ideen, dynamische Bewegungen und massiv empfundene Bedrohungen gaben der Zeit ihr Gepräge. Es war auch die Zeit von Martin Luther King und der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung. Die Zeit der ersten Mondlandung. Die Zeit der Antikriegsbewegung, des kalten Krieges und der Ängste vor Überbevölkerung. Angeführt von den USA war die westliche Welt bereit, sich auf ganz neue Ideen einzulassen. Es war die Zeit der aufkommenden Pille, und im Entscheid Griswold v. Connecticut des Obersten Gerichtshofs der USA hatte Planned Parenthood 1965 landesweit die Legalisierung von Verhütungsmitteln erstreiten können. Der evangelikale Theologe John Warwick Montgomery lieferte den Evangelikalen die theologische und ethische Rechtfertigung zum Gerichtsentscheid. Der von Montgomery formulierte, neue Konsens lautete: „Nein zur Abtreibung, Ja zur Geburtenkontrolle“.
Katholiken als latentes Feindbild
Obwohl die evangelikale Bewegung sich grundsätzlich um Anschluss und Allianzen über die Grenzen von Denominationen hinweg bemühten, war latente Feinseligkeit gegenüber Katholiken ein fester Bestandteil der protestantischen DNA. Die Verfechter von Geburtenkontrolle oder Abtreibung nutzten dieses Feindbild über Jahrzehnte geschickt aus mit dem Ziel, den historischen gesamtchristlichen Konsens in sexualethischen Fragen aufzubrechen. So prangerte beispielsweise Margaret Sanger in den 20er- und 30er-Jahren die restriktiven Gesetze im Bereich Verhütung und Sexualität als ‚katholisches Übelʻ an und fand damit unter den protestantischen Pastoren neue Freunde. Das Ganze war jedoch eine Lüge, denn die US-Gesetze ihrer Zeit waren voll und ganz aus der Initiative von Protestanten entstanden, allen voran Politiker Antony Comstock. Aber bekanntlich ist der Feind deines Feindes dein Freund. Aus Gründen der Abgrenzung von den Katholiken liefen die protestantischen Pastoren bald scharenweise in die Arme der Geburtenkontrollbewegung, die von Margaret Sanger ausging. Mit der gleichen Strategie wurden dann in den 60er-Jahren protestantische Pastoren in der Abtreibungsfrage umworben.
Als im Juli 1968 die Katholische Kirche in ihrer Enzyklika Humanae Vitae ihren lebensfreundlichen Kurs bekräftigte, hätte der Kontrast zum wenige Wochen vorher stattgefundenen, evangelikalen Symposium kaum grösser sein können. Der katholische Gegenentwurf zu den Trends der Zeit sandte Schockwellen durch die ganze Christenheit, brachte die Evangelikalen Leiter jedoch nicht dazu, ihre Positionierung zu überdenken. Die führenden Evangelikalen realisierten wohl nicht, dass nicht die katholische Kirche in dieser Sache ihr Gegenspieler war, sondern die Kräfte der sexuellen Anarchie jener Tage.
Verhütung zur Verhinderung von Abtreibung?
Säkulare Advokaten argumentierten im Kampf um die Legalisierung von künstlichen Verhütungsmitteln unter anderem damit, dass die ‚Pandemie der Abtreibung‘ damit gebrochen werden könne. Tatsächlich trat das Gegenteil ein: Die Legalisierung von künstlichen Verhütungsmitteln bewirkte nicht den angekündigten Rückgang, sondern einen ungeahnten Anstieg der Abtreibungszahlen. Dies, weil die neuen Verhütungsmöglichkeiten die Promiskuität und die Ansicht förderten, dass das Recht auf individuelle Lebensgestaltung über dem Lebensrecht des Ungeborenen stehe. Legalisierte Abtreibung war die Lösung, damit ungewollte Kinder im neuen Zeitalter von Selbstverwirklichung und sexueller Freiheit nicht ‚alles ruinieren‘ würden. Die säkularen Leitfiguren, welche erst gerade noch Verhütungsmittel als Instrument zur Eindämmung der ‚Pandemie der Abtreibung‘ verkauft haben, waren selbstverständlich umgehend zur Stelle, um nun auch die Legalisierung von Abtreibung zu fordern.
Konsens im Wanken
Unter dem Einfluss dieser Entwicklungen geriet der evangelikale Konsens „Nein zu Abtreibung – Ja zur Geburtenkontrolle“ nahezu sofort ins Wanken. 1968 versammeln sich die führenden Köpfe der Evangelikalen unter dem Patronat ihres publizistischen Flaggschiffs Christianity Today, um Fragen von Verhütung, Sterilisierung und Abtreibung zu debattieren. Die Ergebnisse wurden in einer thematischen Ausgabe des Magazins unter dem Titel: „Ein protestantisches Bekenntnis zur Kontrolle der menschlichen Fortpflanzung“ publiziert. Erklärt wird darin unter anderem „Der christliche Arzt wird zu einem Schwangerschaftsabbruch nur raten, um höhere Werte zu schützen, die von der Heiligen Schrift sanktioniert werden. Diese Werte können individueller, familiärer oder gesellschaftlicher Art sein.“ Viel menschliches Leid könne ausserdem gelindert werden, wenn die Geburt von Kindern verhindert werde, bei denen ein vorhersehbar hohes Risiko einer genetischen Krankheit oder Abnormität bestehe. Die damalige evangelikale Elite öffnete mit solchen Aussagen nur 30 Jahre nach Hitlers Verbrechen gegen die Menschlichkeit Tür und Tor für die Abtreibung aus eugenischen Gründen, Abtreibungen zur Bevölkerungskontrolle sowie Sterilisation von mental unzurechnungsfähigen Personen. Die vermeintlich ‚bibelfestenʻ und ‚konservativenʻ Evangelikalen hatten sich – zumindest in ihrer Elite, auf einen vertieften Flirt mit dem revolutionären Geist der 68er-Jahre eingelassen und als im Jahr 1973 Abtreibung in den USA durch Roe v. Wade legalisiert wurde, war die Resonanz in evangelikalen Kreisen relativ gering.
Empfänglich für die Narrative der Zeit
Es ist offensichtlich, dass das säkulare Narrativ das Denken der evangelikalen Gilde stark beeinflusst und Themen in den Hintergrund gedrängt hat, welche die Bibel durchziehen und zum festen Bestandteil der jüdisch-christlichen Überlieferung gehören. Eines der wichtigsten Narrative der 60er-Jahre war die Idee, dass das Bevölkerungswachstums ausser Kontrolle geraten sei. Die bewusst geschürte Angst vor einer weltweiten Überbevölkerung übte auch auf kirchliche Verbände einen starken Einfluss aus. Klargestellt werden muss jedoch, dass Abtreibung als ‚Dienst an der Gesellschaftʻ ein äusserst gefährliches Narrativ darstellt, welches als Druckmittel ausgenutzt werden kann, um schwache Menschen in ihren Entscheidungen zu beeinflussen oder staatliche Massnahmen zu rechtfertigen. In die gleiche Kategorie gehört auch die Thematisierung von Abtreibung als ein Menschenrecht. Die Kampagne für legale Abtreibung wurde und wird bis heute als Menschenrecht für Frauen inszeniert. Aus dem Blickfeld geraten dabei die Rechte des Kindes; man benutzt den angeblichen Definitionsspielraum betreffend der Identität des ungeborenen Kindes, um Gewissensspielraum zu schaffen und Abtreibung zu rechtfertigen. Dieser Argumentation haben sich leider auch viele Evangelikalen angeschlossen. Individuelles Glück und gesellschaftliche Planbarkeit rücken dadurch in den Vordergrund, während der Wert des menschlichen Lebens hintenanstehen muss.
Pro Life Bewegung mit Schweizer Wurzeln
Die Positionierung der evangelikalen Elite in der Frage der Abtreibung vor 50 Jahren zeigt auf schmerzhafte Weise, wie leicht Bewegungen abdriften können. Doch in den Jahren nach dem Entscheid Roe v. Wade trat eine dramatische Wende ein. Neue und bis dahin weitgehend unbekannte Figuren betraten die Bühne, allen voran der Theologe Harold O.J. Brown, der Pädiater C. Everett Koop sowie der ab 1948 in der Schweiz wohnhafte, amerikanische Theologe und Kulturphilosoph Francis Schaeffer. Der Weg von Harold O.J. Brown kreuzt sich 1961 mit Francis Schaeffer, als er einen Besuch in l’Abri in den Schweizer Bergen macht, wo Schaeffer damals eine christliche Kommunität aufbaute. Als Brown nach Harvard zurückkehrte, begann er, sich mit der säkularen, liberalen akademischen Kultur dort aktiv anzulegen. Später arbeitete Brown zeitweise in Lausanne, Basel und Klosters. Ab 1973 legt Harold Brown durch seine Texte den Samen für eine evangelikale Wende in der Haltung zu Abtreibung. C. Everett Koop begegnete Francis Schaeffer kurz vor dessen Ausreise nach Europa, weil Schaeffers Tochter Priscilla wegen einer mysteriösen Krankheit in ein amerikanisches Spital eingeliefert wurde. Koop identifizierte die Krankheit und aus der zufälligen Begegnung entstand eine langjährige Verbundenheit. Aus dem jungen Arzt Koop wurde einer der bekanntesten Kinderärzte der USA, der das Ziel verfolgte, Leben zu retten, statt Leben zu vernichten. Rund 30 Jahre nach der ersten Begegnung trat Koop gemeinsam mit Schaeffer im gemeinsamen Kampf für das Recht auf Leben der Ungeborenen auf. 1980, nur sieben Jahre nach dem Entscheid des Obersten Gerichtshofes zugunsten legaler Abtreibung, wurde mit Ronald Reagan (1911–2004) ein Präsident gewählt, welcher sich hinter das Pro-Life-Anliegen stellte und C. Everett Koop zum Gesundheitsminister ernannte.
Was an einem Krankenhausbett in den USA und in einem Chalet in den Schweizer Bergen seinen Anfang nahm, entwickelte sich über die Jahre zu dem, was heute als Pro Life-Bewegung bekannt ist. Diese setzt sich weltweit dafür ein, dass jeder Mensch von seiner Zeugung an ein bedingungsloses Recht auf Leben und eine unverlierbare Würde besitzt. In Europa wird die Pro-Life-Bewegung mehrheitlich von engagierten Katholikinnen und Katholiken angeführt, deren geistliche Oberhäupter sich bis heute unbeirrt für einen umfassenden Lebensschutz von der Empfängnis an aussprechen. Ob die evangelikale Bewegung in der Schweiz sich entschliessen wird, wieder deutlich entschiedener in die Fusstapfen von Francis Schaeffer zu steigen und sein lebensfreundliches Erbe an der Seite ihrer katholischen Mitstreiter fortzuführen?