Mit nur zwei Stimmen Unterschied beschloss der Ständerat am zweiten Tag der Wintersession 2020, dem 1. Dezember 2020, die „Ehe für alle“ auf Gesetzesstufe zu regeln und verfassungsrechtliche Bedenken gegen ein solches Vorgehen und das Kindeswohl links liegen zu lassen.
Ein Kommentar von Regula Lehmann
Dies, obwohl die ständerätliche Mittefraktion treffend darauf hinwies, dass es sich beim ursprünglich von der GLP eingereichten Vorstoss ebenfalls um eine Verfassungsänderung gehandelt habe und nur eine solche der Tragweite einer Eheöffnung tatsächlich Rechnung trage. „Die Vorlage des Nationalrats stützt sich in Bezug auf die Verfassungsmässigkeit der Ehe für alle wie gesagt auf ein nicht tragfähiges Fundament ab, wenn sie sich dabei auf die zeitgemässe Auslegung von Artikel 14 der Bundesverfassung abstützt und sich damit auf das Recht auf Ehe und Familie beruft”, votierte beispielsweise der Bündner Ständerat Stefan Engler, Mitglied der aus CVP, EVP und BDP bestehenden Mitte-Fraktion. „Die Grenzen einer zeitgemässen Auslegung werden dort – wie vorliegend – überschritten, wo man vorgibt, die zeitgemässe Auslegung, das gegenwärtige Verständnis einer Verfassungsnorm, abzubilden“, führte Engler seine Argumentation weiter aus.
Unterstützt wurde er von Fraktionskollege Beat Rieder, der darauf hinwies, dass die Volkssouveränität für weit weniger wichtige Themen – wie beispielsweise die Hornkuh-Initiative – bemüht werde. Rieder untermauerte sein Votum für eine notwendige Verfassungsänderung mit einem Zitat des berühmten US-Verfassungsrechtlers Antonio Scalia: „‚It’s not the intended meaning, it’s the original meaningʻ. Versuchen Sie nie, eine Verfassung über die Absichten zu definieren, sondern versuchen Sie, sie über die eigentliche Meinung, die eigentliche Auffassung des Verfassunggebers zu erklären.“
Ungeachtet dieser Ausführungen wurde die verfassungsrechtliche Grenzüberschreitung aufgrund von zwei Enthaltungen äusserst knapp beschlossen. Im zweiten Teil der Ständeratsdebatte zur parlamentarischen Initiative „Ehe für alle“ wurde über die Änderungen des Zivilgesetzbuches abgestimmt. Im Zentrum standen dabei die Frage des Zugangs zur Fortpflanzungsmedizin sowie die Frage, wie das Kindswohl gesetzlich zu gewährleisten sei. Bundesrätin Karin Keller-Sutter mahnte zur Zurückhaltung und erklärte: „Ich werde in den nächsten Tagen junge Menschen empfangen, die nicht wissen, wer ihre Eltern sind. Dort stellt sich diese Frage aufgrund eines behördlichen Versagens ganz akut. Dem Bundesrat geht es einfach darum, dass wir nicht jetzt solche Fälle schaffen, die dazu führen, dass in ein paar Jahren junge Menschen zum Bundesamt für Justiz kommen und sagen: Wer ist mein Vater? Denn man hat eben das Recht darauf, seine Abstammung zu kennen.“
Dass es für das Kindeswohl bei Weitem nicht ausreicht, mit 18 Jahren via Registerauszug über die eigene Herkunft informiert zu werden, fand leider kaum Eingang in die Debatte. „Verdreht“ wirkte das Votum des Ausserrhoder Ständerates Andrea Caroni, der erklärte: „… man kann, noch stärker, auch die Perspektive des Kindes einnehmen. Denn es geht ja schlussendlich um die Frage: Darf hier ein Kind gezeugt werden oder nicht? Wenn man sagt, das geht nur bei heterosexuellen Paaren mit der Samenbank, aber nicht bei homosexuellen Paaren, dann sagt man ja indirekt dem Kind: Wir verbieten dir das Leben, weil einer der beiden Menschen, die dich gerne hätten, das falsche Geschlecht hat.“
Herr Caroni, es geht nicht um das Verbieten eines Lebens, sondern um die Frage, ob ein Leben künstlich und mit Hilfe fremden Erbgutes hergestellt werden soll. Um die Auseinandersetzung, ob es legitim ist oder eine gravierende Verletzung der Kinderrechte darstellt, einem Kind absichtlich das Aufwachsen bei seiner leiblichen Mama und seinem leiblichen Papa vorzuenthalten, um die Wünsche Erwachsener zu erfüllen! Die kleine Kammer entschied sich in der Abstimmung über die Änderung des Zivilgesetzbuches entgegen der fundierten Voten der Gegner einer Eheöffnung auf gesetzlichem Weg dafür, dem Beispiel des Nationalrates in weiten Teilen zu folgen. Dies, obwohl ein rasches Verabschieden des Geschäftes „Ehe für alle“ in der ständerätlichen Debatte von Gegnern und Befürwortern mehrfach als „Hintereingang“, „schmale Lösung“, „Schnellschuss“ oder „nicht sachgemäss“ bezeichnet worden war. Durch ist die Vorlage damit jedoch noch nicht. Der Ständerat hat sie zur Klärung verschiedener Punkte zurück in die grosse Kammer geschickt. Insbesondere der Zugang zur Samenspende für lesbische Paare sorgt nach wie vor für Differenzen. Laut dem mit 22 Ja-Stimmen, 15 Nein-Stimmen und 7 Enthaltungen erklärten Willen des Ständerat soll die mit der leiblichen Mutter verheiratete Frau nur dann automatisch als Elternteil anerkannt werden, wenn das Kind mithilfe einer Schweizer Samenbank gezeugt wurde. Im Falle einer anonymen Samenspende müsste sie es adoptieren. Interessenverbände wie Pink Cross sind damit alles andere als zufrieden. Mit erhobener Regenbogenfaust äussern sie auf digitalen Plattformen ihre Unzufriedenheit. Doch Zwängerei ist bei einer derart zukunftsprägenden Frage fehl am Platz. „Blut ist dicker als Wasser“, sagt eine Volksweisheit. Wer Augen hat und sehen will, der sieht.