Ein im Auftrag von Human Life International (HLI) Schweiz erstelltes Rechtsgutachten kommt zum Schluss: Die vom Bundesgericht annullierte Initiative „Für Ehe und Familie – gegen die Heiratsstrafe“ muss dem Stimmvolk erneut vorgelegt werden – ohne wenn und aber. Und: ein Rückzug der Initiative ist nach erfolgter Abstimmung nicht mehr möglich.

Das gab es noch nie in der Geschichte der Schweiz: Mit Urteil vom 10. April 2019 hat das Bundesgericht erstmals eine eidgenössische Volksabstimmung für nichtig erklärt. Konkret ging es um die CVP-Initiative zur Abschaffung der Heiratsstrafe. Hauptgrund der Annullierung waren die krass falschen Zahlen, die der Bundesrat dem Stimmvolk im Vorfeld der Abstimmung vorgegaukelt hatte: Nicht 80’000 Erwerbs-Ehepaare, wie der Bundesrat in der Abstimmungsbroschüre behauptet hatte, sind von der Heiratsstrafe betroffen, sondern 450’000, also fast sechsmal mehr. Besonders bedenklich: Der Bundesrat wusste schon vor der Abstimmung um die falschen Zahlen, unterliess aber die fällige Korrektur, weil er angeblich „die Bevölkerung nicht mit neuen Zahlen verunsichern wollte“.

Bereits im März 2018 hatte der Bundesrat eine Botschaft zur Beseitigung der Heiratsstrafe verabschiedet. Im August 2019, also nach dem genannten Bundesgerichtsurteil, doppelte er mit einer Zusatzbotschaft nach. Diese aktualisierte die bisherigen, irreführenden Zahlen: Rund 450’000 Zweitverdiener-Ehepaare und 250’000 Rentner-Ehepaare sind von der Heiratsstrafe betroffen und nicht nur 80’000, wie ursprünglich behauptet. Der Bundesrat will diese Ungerechtigkeit nun mit einer sog. Schattenrechnung beseitigen: An der gemeinsamen Ehegattenbesteuerung soll formal festgehalten werden, Basis für die effektive Steuerbelastung wäre dann aber die Besteuerung von Konkubinatspaaren. Zu diesem Zweck sieht der Bundesrat eine Tarifkorrektur im Bundesgesetz über die direkte Bundessteuer vor – es müsste mit Mindereinnahmen im Gesamtbetrag von 1,5 Milliarden Franken gerechnet werden. In der Medienmitteilung vom 14. August 2019 bilanzierte der Bundesrat seinen Vorschlag wie folgt: „Die Zusatzbotschaft erlaubt es dem Parlament, verschiedene Anliegen der Volksinitiative ‚Für Ehe und Familie – gegen die Heiratsstrafe‘ im Rahmen der Vorlage zur ausgewogenen Paar- und Familienbesteuerung inhaltlich zu behandeln und einen faktischen Gegenvorschlag zu erarbeiten. Bei einem allfälligen Rückzug durch das Initiativkomitee würde über die Volksinitiative nicht nochmals abgestimmt.“ Am 16. September 2019 lehnte der Ständerat auf Initiative von SP- und FDP-Vertretern die Vorlage ab. Er beauftragte stattdessen den Bundesrat, alternative Modelle vorzulegen, insbesondere das Modell der Individualbesteuerung. Damit würde dem ohnehin schon erodierendem Fundament der Ehe als einer umfassenden Lebens- und Schicksalsgemeinschaft auch steuerrechtlich der Boden entzogen. Ein Rückzug müsste aber, so der Bundesrat, noch vor dem 27. Mai 2020 erfolgen, ansonsten müsste es zu einer Wiederholung der Volksabstimmung kommen. Die Crux dabei: Die Initiative der CVP definiert die Ehe als eine auf „Dauer angelegte und gesetzlich geregelte Lebensgemeinschaft von Mann und Frau“. Exakt von diesem Verständnis will die heutige CVP aber nichts mehr wissen. Lieber möchte sie das von ihr selbst initiierte Volksbegehren diskret entsorgen und das Anliegen der Beseitigung der steuerlichen Benachteiligung von Ehepaaren durch Anpassungen der einschlägigen Gesetze verwirklicht sehen.

Doch hier stellt sich die fundamentale Frage: Ist es juristisch gesehen überhaupt noch möglich, eine Volksinitiative zurückzuziehen, nach dem Volk und Stände darüber bereits abgestimmt haben? HLI wollte diese und andere Fragen geklärt wissen und hat dazu ein Rechtsgutachten in Auftrag gegeben, erstellt von Frau Dr. iur. Isabelle Häner, hauptberuflich als Anwältin bei Bratschi AG tätig und Titularprofessorin für Staats- und Verwaltungsrecht an der Universität Zürich. Dieses Rechtsgutachten erfolgte unter der Prämisse, dass sich die darin enthaltenen Erwägungen auf einen bis anhin präzedenzlosen Sachverhalt beziehen, nämlich auf die Annullierung einer eidgenössischen Volksabstimmung durch das Bundesgericht. Die folgenden Ausführungen reflektieren die Kernaussagen des Rechtsgutachtens.

Wiederholung der Abstimmung zwingend

Ausgangspunkt für die Beurteilung des weiteren Vorgehens nach Aufhebung einer eidgenössischen Volksinitiative muss Art. 34 Bundesverfassung bilden (Gewährleistung der politischen Rechte / Schutz der freien Willensbildung und der unverfälschten Stimmabgabe). Ein Teilgehalt von Art. 34 Abs. 1 BV ist das Initiativrecht, konkretisiert in Art. 139 BV. Die Volksinitiative „Für Ehe und Familie – gegen die Heiratsstrafe“ erfüllte sämtliche formellen und materiellen Voraussetzungen dieser rechtlichen Vorgaben, ansonsten wäre gar nicht darüber abgestimmt worden. Für den Fall einer aufgehobenen eidgenössischen Volksinitiative bedeutet das Initiativrecht demzufolge, dass die Volksinitiative den Stimmberechtigten direkt zur Wiederholungsabstimmung vorgelegt werden muss, da für ein anderweitiges Vorgehen keine gesetzliche Grundlage besteht. Darüber hinaus sprechen auch Sinn und Zweck der Beschwerde in Stimmrechtssachen dafür, dass eine Volksabstimmung, zumal eine eidgenössische, unmittelbar wiederholt werden muss, wenn, wie in casu der Fall, höchstrichterlich eine schwerwiegende Verletzung der Abstimmungsfreiheit festgestellt wird. Denn nur die unmittelbare Wiederholung einer aufgehobenen Volksabstimmung unter möglichst gleichen politischen Bedingungen kann die Legitimität des Urnenganges und das Vertrauen der Stimmberechtigten in die demokratischen Prozesse gewährleisten. Die diesbezüglichen Interessen der Stimmberechtigten haben jedenfalls Vorrang vor partikularen Interessen wie jenen des Initiativkomitees. Diese Rechtsauffassung wird von Staatsrechtsprofessoren wie Urs Saxer und Rainer J. Schweizer wie auch von Juristen der Bundesverwaltung geteilt.

Kann die Volksinitiative noch zurückgezogen werden?

Wie selbstverständlich gehen Bundesrat, Exponenten der CVP und Medien unreflektiert davon aus, dass die Initianten ihre Volksinitiative solange zurückziehen könnten, bis der Termin für die Wiederholungsabstimmung feststehe. Das Gutachten widerspricht dieser Auffassung. Denn es geht im Rahmen einer (in diesem Falle erfolgreichen) Stimmrechtsbeschwerde nicht primär um die Wahrung der eigenen politischen Interessen, sondern um die Wahrung öffentlicher Interessen bzw. um die Gewährleistung des demokratischen Rechtsstaates. Durch die Aufhebung einer eidgenössischen Volksabstimmung erhalten die in ihren politischen Grundrechten verletzten Stimmberechtigten, die bei der Volksabstimmung ihren Willen nicht frei bilden und ihre Stimme nicht unverfälscht abgeben konnten, einen unbedingten Anspruch auf Wiederholung der aufgehobenen Abstimmung unter rechtskonformen Voraussetzungen. Ein Rückzug ist aus dieser Perspektive in jedem Fall als unzulässig zu betrachten. Dieser Auffassung stehen auch Art. 73f. des Bundesgesetzes über die politischen Rechte nicht entgegen. Die betreffenden Rückzugsbestimmungen sind grundsätzlich als Verwirkungsbestimmungen zu verstehen, soll doch damit verhindert werden, dass der Gesetzgeber nicht zum Spielball eines Initiativkomitees degradiert wird. Mit der Festsetzung der ersten Volksabstimmung hat das Initiativkomitee demzufolge das Recht auf Rückzug der Initiative verwirkt.

Kein Gegenvorschlag durch die Hintertür

Betreffend Möglichkeit eines „Gegenvorschlages“ gilt es zunächst festzuhalten, dass es dem Bundesrat nicht verwehrt werden kann, der Bundesversammlung im Rahmen einer anderen Vorlage die Diskussion über das Anliegen der Volksinitiative zu ermöglichen. In ähnlicher Weise steht es auch der Bundesversammlung trotz aufgehobener Volksinitiative aufgrund ihrer allgemeinen Gesetzgebungskompetenz grundsätzlich zu, zum materiellen Gegenstand der Volksinitiative zu legiferieren. Von einem direkten Gegenentwurf bzw. einem indirekten Gegenvorschlag kann allerdings grundsätzlich nur gesprochen werden, wenn der diesbezügliche Beschluss im Zeitraum nach der Einreichung der Volksinitiative und dem Zeitpunkt vor der ersten Volksabstimmung ergeht. Abgesehen davon steht einer Wiederholung des parlamentarischen Verfahrens der weder durch das Bundesgericht noch durch den Bundesrat aufgehobene Bundesbeschluss der Bundesversammlung über die Volksinitiative „Für Ehe und Familie – gegen die Heiratsstrafe“ vom 19. Juni 2015 im Wege, in welchem die Bundesversammlung ja gerade beschloss, die genannte Volksinitiative ohne direkten Gegenentwurf bzw. indirekten Gegenvorschlag zur Abstimmung zu bringen Bevor die Bundesversammlung das parlamentarische Verfahren überhaupt wiederholen könnte, müsste sie deshalb zuerst wieder ihren eigenen Beschluss aufheben.

Rekursmöglichkeiten

Bleibt noch die abschliessende Frage, welche politischen Instrumente zur Verfügung stehen, falls Bundesrat, Bundesversammlung und/oder Initiativkomitee die Absicht hegen, bei der Weiterbehandlung diese Volksinitiative die rechtlichen Vorgaben zu unterlaufen. Diesbezüglich hält das Gutachten fest, dass Akte des Bundesrates und der Bundesversammlung (insbesondere Abstimmungsfestsetzung und Aufhebung des Bundesbeschusses über die Volksinitiative) im Prinzip keine taugliche Anfechtungsobjekte darstellen. Anders verhält es sich jedoch hinsichtlich einer allfälligen Rückzugserklärung der Initianten der Volksinitiative „Für Ehe und Familie – gegen die Heiratsstrafe“. Eine juristische Person wie Human Life könnte allenfalls beschwerdelegitimiert sein. Um auf „Nummer sicher“ zu gehen, wäre eine Beschwerde zusammen mit einer auf eidgenössischer Ebene stimmberechtigten Person einzureichen.