Die Begriffe „Gleichberechtigung“ und „Chancengleichheit“ dominieren das Denken in Schule, Politik und Gesellschaft. „Stereotype“ sollen abgebaut werden, Jungs sollen Gefühle zeigen und auf körperliche Auseinandersetzungen verzichten. Werden wir mit diesen Vorstellungen den Jungen gerecht? Nein. Jungen sind anders als Mädchen. Das ist auch gut so. Ein Aufruf an die Jungen von heute.
Von Ralph Studer
Wer kümmert sich um die Interessen und Entwicklung der Jungen? Diese Frage ist berechtigt angesichts der weitverbreiteten Förderung und Fokussierung auf Mädchen in unserer Gesellschaft. Die Jungen drohen dabei vergessen zu werden. Sie gelten als Problemschüler, sind auffällig und verursachen Probleme, so die oft gehörte Meinung.
Jungs sind anders
Dass Jungen in der Tendenz andere Eigenschaften als Mädchen aufweisen, wird heute oftmals ausser Acht gelassen oder vernachlässigt. Doch Jungen sollen nicht die „besseren Mädchen“ werden, sondern Jungs sein und sein dürfen.
Unsere Gesellschaft hat es verlernt, auf die Bedürfnisse und das Wesen von Jungs einzugehen und den natürlichen geschlechtlichen Gegebenheiten Rechnung zu tragen. Auch wenn wir von der Gesellschaft beeinflusst und geformt werden (sogenannte „Sozialisation“), gibt es männliche und weibliche Eigenschaften, die auf den Einfluss der Gene und Hormone zurückzuführen sind und nicht von der Gesellschaft produziert werden. Der Schweizer Psychologe Allan Guggenbühl hält zutreffend fest: „Wir sind nicht nur das Produkt der Sozialisation, sondern entwickeln uns im Zusammenspiel mit unseren Anlagen. Bei den Rollenklischees und geschlechtlichen Zuschreibungen handelt es sich darum nicht nur um Vorurteile und Fehlschlüsse, sondern sie spiegeln auch effektive Geschlechtsunterschiede wider.“
Im Unterschied zu Mädchen sind viele Jungs in der Tendenz laut, konstant in Bewegung, sie schreien, toben, messen ihre Kräfte, rangeln und springen herum. Man hat den Eindruck, dass die Jungen grenzenlose Energie aufweisen. Auffällig im Umgang mit den Jungen ist u.a., dass sie klare und direkte Anweisungen schätzen, sich an der Gruppe orientieren und sich an verbal bzw. körperlich erkämpften Hierarchien untereinander ausrichten. Sie zeichnen sich u.a. durch Abenteuerlust, Erkunden der Natur und handwerkliches und technisches Interesse aus.
Jungs auf dem Weg zum Mannsein
Gerade für heranwachsende Jungen ist es wichtig, ihre Talente und Stärken immer mehr zu erkennen und diese auch einzusetzen. Selbstwirksamkeit in Schule und Alltag zu erleben, stärkt natürlicherweise das Selbstvertrauen und die Freude am eigenen „Jungensein“. Jungen haben oft Mühe, ihre eigenen Schwächen zu akzeptieren und versuchen diese zu verbergen. Lernen Jungs sich selbst mit all ihren Schattenseiten und Schwächen anzunehmen und diese in ihre Person zu integrieren, ist ein entscheidender Schritt auf dem Weg zu einem später zufriedenen Leben getan. Spüren die Jungs die Annahme und Liebe ihrer Eltern und Erzieher trotz all ihrer Schwächen und Unfähigkeiten (s. auch Artikel: Erziehung zum gesunden, freien Jungen), sind sie auch viel weniger gefährdet, in ungesunde perfektionistische Gedanken und Haltungen zu fallen. Sie brauchen niemandem mit Leistung etwas zu beweisen, sondern werden geliebt, wie sie sind. Um ihrer selbst willen. Hierzu brauchen sie jedoch vor allem verständnisvolle und ermutigende Väter und Erzieher, welche ihnen ein offenes Ohr schenken und ihnen in ihren Enttäuschungen zur Seite stehen. Auf diese Weise lernen Jungs, auch Hilfe von anderen anzunehmen und nicht alles selbst können und machen zu müssen. Solche Erfahrungen führen zu einer guten Selbsterkenntnis, Demut, Anerkennung eigener Grenzen und dem wohltuenden Erleben, wie erleichternd und hilfreich es ist, Rat bei Mitmenschen zu suchen und zu erhalten.
Wie wertvoll sind zudem für die Jungen Worte der aufrichtigen Ermutigung, sich weiterzuentwickeln, sich mehr zuzutrauen und ihre selbst gesteckten Grenzen zu überschreiten, Abenteuer einzugehen und neue Horizonte anzustreben. Gerade in unserer digitalisierten Welt sind Erfahrungen und Erkundungen im realen Leben (s. Artikel: Jugend zwischen Digitalisierung und realem Leben) besonders für Jungs von elementarer Bedeutung. Der Abenteurer, der Erforscher im Jungen wird geweckt und gefördert.
Jungen, welche mit Begeisterung und Freude auf ihre eigenen Stärken und Errungenschaften blicken und Bestärkung von ihrem Umfeld erfahren, werden als starke, verantwortungsvolle Männer die Welt mit ihren Talenten prägen, ihre Mitmenschen ihrerseits ermutigen und zu entsprechenden Höchstleistungen anstacheln. Selbstbewusstsein und Mut sind herausragende Eigenschaften für ein zufriedenes und erfüllendes Leben.
Jungen auf diesem Weg zum Mannsein zu begleiten, darin liegt eine Kernaufgabe von Eltern, Erziehern und Lehrern: Jungen in ihrer männlichen Identität zu bestärken und zu bestätigen. Rufen wir doch den Jungen zu: „Euer Leben soll eine Leuchtspur am Horizont sein, ein Leuchtturm, der anderen Sicherheit und Orientierung gibt und diese zum Guten anspornt und mitreisst. Entwickelt aus euren Stärken, Talenten, euren Werten und Überzeugungen grossartige Visionen für euer Leben und das Leben eurer Mitmenschen. Visionen motivieren, treiben voran, entflammen andere, verändern Bestehendes zum Guten. Verfolgt diese Visionen mit Zielstrebigkeit und Disziplin. Denkt dabei immer daran: Die Entscheidungen, die ihr heute trefft, haben Auswirkungen auf euer Leben und ob ihr eurer Vision Schritt für Schritt näherkommt.“
Was unsere Zeit braucht
Wir leben in einer Zeit, in der viele Menschen orientierungslos geworden sind und Traditionen und Bewährtes in Frage gestellt werden. Gerade deshalb braucht es heute Männer, die wieder klar und bestimmt für ihre christlichen Überzeugungen und für die Wahrheit eintreten. Unsere Länder brauchen mehr denn je mutige Männer. Männer, die den Wettbewerb und die Konkurrenz nicht scheuen, die klare und eindeutige Entscheidungen treffen, sich von ihrem Weg nicht abbringen lassen und ihren Grundsätzen treu bleiben. Männer, die für ihre Familien und Lieben einstehen, sich für die Gemeinschaft engagieren und sich für unsere schöne Heimat einsetzen. Männer, die bereit sind, Verantwortung zu übernehmen, aber auch ein Ohr für ihre Mitmenschen haben, für ihre Nöte und Schwächen, die andere ermutigen, wenn sie verzagt sind, Männer, die für ihre Freunde und Familie bis an das Ende der Welt gehen. Ja, solche Männer brauchen wir.
Als Erwachsene tragen wir für diesen Prozess des Mannwerdens die Verantwortung. Denn die Jungs von heute sind die Männer und Väter von morgen und werden mit ihrer Art, ihren Eigenschaften, ihrer Identität die zukünftigen Generationen prägen. Unsere Jungen sind es wert, dass wir uns mit aller Kraft, aller Energie und Überzeugung für sie einsetzen.
Literaturtipp: Plassnig Daniel/Karasch Philipp, Träumer, Kämpfer, Gentleman – eine Männerfibel, Wolff Verlag, 2020.