Ein erstes Jahr seit Beginn der Frauenproteste hat im Iran die „Islamische Republik“ der schiitischen Klerisei überlebt. Doch knistert es bedrohlich im Gebälk ihrer Strukturen. Nur die iranische Waffen-SS Sepah-e Pasdaran, schon jetzt wichtigste und mächtigste Institution des „Gottesstaats“ von Teheran, verstärkt sogar ihren Griff an den Schalthebeln. Zu Lasten des unpopulär gewordenen islamischen Verhaltenskodex und der mit dessen brutaler Durchsetzung belasteten Sittenpolizei.
Von Heinz Gstrein, Orientalist
Unmittelbarer, De-Facto-Nachfolger des am Grabesrand stehenden „Geistlichen Führers“ Ayatollah Ali Chomenei dürfte kein religiöser Würdenträger, sondern Sepah-Kommandant Generalleutnant Hossein Salami werden. Einem offiziellen, aber machtlosen Regierungssystem einer „Herrschaft der islamischen Gelehrten“ (welayat-e faqih) dürfte das keinen Abbruch tun: Schon im islamischen Mittelalter hatte es sich eingebürgert, dass der Kalif und sein „Weisenrat“ einem Militär-Sultan das Regieren überliessen.
Tausende Festnahmen und 23 Todesurteile
Dieses „Jahr der Frauen“ hatte in Iran das grausame Ende der jungen Kurdin Mahsa Amini ausgelöst. Sie wurde durch die Sittenpolizei von der Strasse weggefangen, weil ihr Tschador-Kopftuch verrutscht war und ein paar Haare hervorschauten. Auf der Wachstube misshandelt und missbraucht starb sie am 16. September 2022 in einem Teheraner Spital. Es folgten monatelange, heftige Frauenproteste gegen das Unterdrückungsregime der Islamischen Republik. 18’000 Demonstrantinnen dürften seitdem festgenommen sein, 23 Todesurteile wurden schon verhängt, vier davon bereits öffentlich vollstreckt. Wegen „Krieg gegen Allah und Verderbtheit auf Erden“.
Symbol des Aufbegehrens gegen die Staatsgewalt ist der Tschador, ein dunkles Tuch, das Haare und Körper bis zu den Fussspitzen bedeckt. In immer mehr Orten legten Iranerinnen öffentlich den ihnen seit fast einem halben Jahrhundert aufgezwungenen Tschador ab, treten ihn mit Füssen oder verbrennen ihn. Sie rufen nach Befreiung der iranischen Frauen von der drückenden Männerherrschaft, immer öfter aber auch nach einem allgemeinen politischen Umschwung.
Islamische Revolution
Ähnliche Bilder hatte es schon im Winter 1978/79 gegeben, als die Islamische Revolution durch Iran rollte. Auch damals wurde mit dem Tschador als Fahne der Unrast demonstriert. Doch mit dem Unterschied, dass die Frauen den schwarzen Umhang damals nicht abgelegt, sondern übergezogen hatten, dass ihre umstürzlerischen Parolen nicht dem islamischen Ayatollah-Regime, sondern der Herrschaft von Reza Schah Pavlavi galten. Dieser hatte im Rahmen seines Reformprogramms den Tschador verboten, so dass dessen Tragen in Iran zum sichtbaren Aushängschild der Islamischen Revolution wurde.
Der Schah hatte sich zwar bemüht, den Einfluss der schiitischen Geistlichkeit und des Islam überhaupt zurückzudrängen, versäumte es aber, eine überzeugende andere Weltanschauung anzubieten. Seine Versuche, die altpersische, vorislamische Religion Zarathustras neu zu beleben, fanden nur bei Intellektuellen Anklang. Seine Schwester, Prinzessin Schams, hatte ihm vergeblich geraten, eine Verbreitung des christlichen Glaubens im Iran zu unterstützen. Nur sie allein liess sich in den 1940er-Jahren in einer katholischen Kirche taufen. Es war also ein religiöses Vakuum, in das die Islamische Revolution vorstossen konnte. Ob heute endlich diese feministische Revolte unter dem Motto „Frauen, Leben, Freiheit“ zum Erfolg oder in fortdauernde, noch schlimmere Unterdrückung führt, ist jetzt die bange Frage.
Frauenerhebung oder Abflauen der Proteste?
Für eine Durchsetzung des Aufstands der Frauen und Mädchen sprechen Hoffnung weckende Entwicklungen: Von den 84 Millionen Iranerinnen und Iranern leben heute drei Viertel nicht mehr auf dem Land, sondern in einer der acht Millionenstädte des Landes. Doch auch in der „Provinz“ sind heute so gut wie alle Haushalte dank Fernsehen und Internet rasch und gut darüber informiert, was sich in den städtischen Zentren abspielt. Dort lebt heute die Hälfte der Bevölkerung unter der Armutsgrenze, 2,5 Millionen Strassenkinder. Sie vegetieren ohne Obdach, medizinische Versorgung, Schulbildung und regelmässige Nahrung. Dabei haben Chomeini und seine Epigonen versprochen: „Der Islam löst das Problem der Armut“. Heute sind diese „mosta´zafin“, von Wohlfahrt und erst recht Wohlstand ausgeschlossenen „Enterbten“ jene, die sich als nächste der Frauenerhebung in Iran anschliessen und im Endeffekt dieser zum Sieg verhelfen könnten.
Andererseits weisen manche Beobachter in Teheran darauf hin, dass das unübersehbare Abflauen der Proteste ab dem Frühsommer mit Teuerung und Verarmung zusammenhingen. Die Inflation mache seit Jahresbeginn 50 Prozent aus, Mütter. Hausfrauen und auch Studentinnen hätten jetzt existentiellere Sorgen, als gegen ihre Tschador-Verhüllung auf die Strasse zu gehen.
Die iranischen Minderheiten
Dieses Kalkül stimmt nur zum Teil, da unerschwinglich gewordene Nahrungsmittel und Bekleidungsstücke auch den Zorn gegen das Ayatollah-Regime schüren. Dasselbe gilt für das Aufbegehren iranischer Minderheiten. Die Tötung der Kurdin Amini löste bei ihrer nationalen und religiösen Minorität – Sunniten statt Schiiten – die erste Empörung aus, zum ersten Jahrestag des Frauenmordes griff die Unrast auf das ferne balutschisch-sunnitische Zahestan an der afghanischen Grenze über. Auch im iranischen Aserbaidschan glüht der vom Mystiker Ali Gazi Tabatabai (1866–1947) entfachte Funke schiitischer Gewaltlosigkeit weiter. Diese unpolitische Richtung hat ebenfalls Zukunft für eine Nach-Ayatollah-Zeit …
Christliche Frauen und Mädchen sind bei den iranischen Protesten bisher nicht hervorgetreten. Obwohl Armenier, Chaldäer, römische Katholiken und zunehmend die Pfingstchristen von den Dschama’at-e Rabbani in der Islamischen Republik die nicht unbeträchtliche Zahl von rund einer Viertelmillion Gläubigen zählen und ihnen in der Öffentlichkeit ebenfalls der Tschador vorgeschrieben ist. Evangelikale werden in Iran am härtesten verfolgt, viele ihrer Prediger und Aktivisten sitzen oft schon seit Jahren inTeherans berüchtigtem Foltergefängnis Evin. Da wollen die iranischen Gemeinden der internationalen „Assemblies of God“ nicht mit Tschador-Protesten noch zusätzlichen Vorwand zu ihrer Unterdrückung liefern.