Die Schweiz ist weltweit bekannt als humanitäres Land. Dieser Ruf ist nicht zuletzt der Verdienst von Henry Dunant, dem Gründer des Roten Kreuzes, dessen Todestag sich am 30. Oktober 2010 zum 100. Mal jährte.
Jean Henry Dunant wurde am 8. Mai 1828 in Genf geboren. Seine Kindheit erlebte er sehr behütet mit seinen Eltern und seinen vier Geschwistern auf einem Landgut. In seiner Heimatstadt genossen seine Eltern, beide Mitglieder der Evangelischen Gemeinde, grossen Einfluss. Sein Vater war als Kaufmann viel auf Reisen und dazu noch politisch engagiert, seine Mutter setzte sich sehr für Menschen aus der sozialen Unterschicht ein. Zu Hause gab es fromme Andachten mit Gebeten, Liedern und Bibeltexten. So wurde Henry bereits in frühen Jahren vom grossen sozialen Engagement und dem starken Glauben seiner Eltern geprägt. Die Mutter nahm ihn bei ihren Besuchen ins Armenviertel mit, wo sie sich die Sorgen und Nöte der Menschen anhörte und ihnen das Evangelium in einfachen Worten erklärte. All dies beschäftigte den Knaben sehr, da er vom Gemüt her recht empfindsam war. Besonders erschüttert zeigte sich der kleine Henry, als sein Vater ihn zu einem Gefängnisbesuch mitnahm, wo er das Elend der Gefangenen und die Peitschenhiebe, die er hörte, mit seinem ausgeprägten Gerechtigkeitssinn kaum ertrug.
So kam es, dass er bereits als Kind starke soziale Verantwortung zeigte. In der Schule hingegen glänzte er weniger. Wegen seiner schlechten Noten konnte er keine akademische Laufbahn einschlagen. Stattdessen machte er eine Banklehre. Nebenbei wurde er Mitglied in der Genfer Gesellschaft für Almosenwesen. Fast seine ganze Freizeit verbrachte der junge Dunant in Krankensälen oder Gefängniszellen, um den Menschen materiell und auch seelsorgerlich zu helfen. Immer wieder betonte er, dass er Gutes nicht allein aus humanitären Gründen tue. Vor allem gleichaltrige Männer, mit denen er bei der Almosengesellschaft zusammenkam, hörten ihm gespannt zu, wenn er über konkrete Nächstenliebe und seinen Glauben sprach.
Gründung des CVJM
Schon bald bildete sich ein Kreis christlicher junger Männer, der sich regelmässig traf und aus dem die so genannte „Donnerstagsgesellschaft“ mit Bibel- und Gebetsstunden und Sozialdiensten entstand. Rasch wuchs der Kreis so an, dass man neue Räume suchen musste. Doch Dunants Blick ging weiter. Er wollte nicht nur in seiner unmittelbaren Umgebung etwas tun, sondern über die Landesgrenzen hinaus. So schrieb er unzählige Briefe an gleichgesinnte Kreise in anderen Städten und auch Ländern und begab sich viel auf Reisen. Am 30. November 1852 wurde schliesslich der Genfer „Christlicher Verein junger Männer“, der CVJM, ins Leben gerufen, mit Henry Dunant als Schriftführer. Diese Gründung in der Calvin-Stadt löste eine Art Kettenreaktion aus. An vielen Orten in Europa entstanden ähnliche Vereinigungen und Genf wurde zu einem viel bereisten Zentrum dieser Mitglieder. Wenig später wurde in Paris schliesslich der CVJM Weltbund gegründet.
Der junge Dunant befand sich damals in der Zeit des Wirtschaftswachstums in Europa. Auf einer Geschäftsreise kam Dunant 1859 an Solferino, südlich vom Gardasee, vorbei, wo nur ein Tag zuvor eine der blutigsten Schlachten des damaligen Krieges stattgefunden hatte. In diesem Krieg kämpfte Frankreich mit dem Königreich Sardinien gegen Österreich um die Vorherrschaft in Italien und Europa. Hier wurde der 31-Jährige hautnah mit den grausamen Folgen des Krieges konfrontiert, denn in der Schlacht von Solferino gab es 40‘000 Tote und Verwundete. Das Elend dieser Verwundeten und Sterbenden liess den gut situierten Mann nicht kalt. Er war zutiefst erschüttert und konnte nicht begreifen, dass sich hier niemand um die Menschenleiber, die überall herumlagen, kümmerte. Es gab weder Lazarette noch Ärzte, Pfleger oder eine Verwundetenfürsorge. Er begriff sofort, dass endlich einer anfangen musste zu helfen. So stieg der Zivilist im weissen Reiseanzug aus seinem Gefährt und begab sich mitten in das blutige, verdreckte, stinkende und stöhnende Chaos und fing an, Wunden zu verbinden, Wasser zu reichen, letzte Wünsche entgegenzunehmen und Sterbenden die Hand zu halten.
In seinem enormen Engagement brachte der junge Schweizer die italienische Bevölkerung, die an diesem Ort vor allem noch aus Frauen bestand, dazu, mitzumachen und die Verwundeten so gut wie möglich zu versorgen – ohne Rücksicht auf ihre Herkunft. Sein Motto „Tutti fratelli!“ („Wir sind alle Brüder!“) hörte man bald in allen Strassen. Unermüdlich half Dunant dabei, mit seinen eigenen Händen das Elend zu verringern und vor allem, Hilfe zu organisieren. Dabei drang der „Mann in Weiss“, wie er schon bald genannt wurde, sogar bis zu Kaiser Napoelon III. mit seinen Anliegen vor, um die Freigabe von österreichischen Ärzten für die Behandlung französischer Soldaten zu erreichen.
Nach seiner Rückkehr nach Genf verfasste er die Schrift „Erinnerungen an Solferino“, in welcher er seine Erlebnisse verarbeitete und das Versagen der medizinischen Versorgung in diesem Krieg beschrieb. Er liess auf eigene Kosten 1‘600 Exemplare der Schrift drucken, die er an ausgesuchte Empfänger in Europa verschickte. Seine darin enthaltene Forderung nach einem internationalen Abkommen zum Schutz der Kriegsopfer und seine Idee, eine Hilfsgesellschaft zu gründen, die in Kriegen Verwundete durch Freiwillige pflegen lassen sollte, weckte grosses Interesse. Die Genfer Gemeinnützige Gesellschaft errichtete das „Ständige Internationale Komitee“, welche Dunants Vision umsetzen sollte. Später entwickelte sich daraus das „Internationales Komitee vom Roten Kreuz“, das inzwischen wohl älteste international tätige humanitäre Werk. Die erste Genfer Konvention vom 8. August 1864, welche von zwölf Staaten unterzeichnet wurde, hielt auch Dunants Vorschlag fest, die Neutralität der Helfer und ihrem Material zu gewährleisten.
Aufgrund dieses Erfolges wurde Henry Dunant überall in Europa gefeiert. Doch sein Ruhm währte nicht lange. Durch Spekulation ging der Kaufmann bankrott, was ihm die gesellschaftliche Anerkennung entzog. So verliess der inzwischen 39-Jährige seine Heimatstadt Genf und zog finanziell ruiniert, physisch und psychisch angeschlagen, nach Frankreich. Dunant war von da an auf Wohltäter angewiesen, die für seinen Lebensunterhalt sorgten. 1887 liess er sich auf Anraten seiner Freunde mit 59 Jahren wieder in der Schweiz nieder, in Heiden im Appenzell. Dort verfasste er nochmals verschiedene Publikationen, welche ihm erneute öffentliche Anerkennung einbrachten. Das Schreiben half ihm auch dabei, besser mit seinen Depressionen, die ihn seit seiner Armut begleiteten, zurechtzukommen.
Erster Friedensnobelpreisträger
1895 geriet Dunant noch einmal ins Rampenlicht. Ein Journalist spürte den inzwischen ins Bezirksspital Heiden umgezogenen Rot-Kreuz-Gründer auf und machte die Öffentlichkeit mit einem langen Artikel auf ihn aufmerksam. Gemeinsam mit seinem Stuttgart Freund Rudolf Müller setzte Dunant sich an das Werk „Die Entstehungsgeschichte des Roten Kreuzes und der Genfer Konvention“, welches 1897 veröffentlicht wurde. Auf diese Ereignisse hin bekam Dunant zahlreiche Glückwünsche, Auszeichnungen und auch Spenden. 1901 erhielt er sogar den ersten Friedensnobelpreis zusammen mit dem französischen Pazifisten Frédéric Passy. Auch wenn seine letzten Jahre von tiefen Depressionen gezeichnet waren, so erfüllte ihn diese Auszeichnung noch mit grosser Freude. Am 30. Oktober 1910 starb Henry Dunant im Alter von 82 Jahren in Heiden.
„Henry Dunant war ein Mensch, der die Welt verändert hat“, fasste Bundesrätin Micheline Calmy-Rey an der Gedenkfeier in Heiden zum 100. Todestag von Dunant ganz richtig zusammen. Aus seiner spontanen, mitfühlenden und barmherzigen Haltung gegenüber dem Leidenden auf dem Schlachtfeld von Solferino ist zunächst eine Idee und schliesslich eine weltweite Bewegung entstanden. Die Wurzeln zu dieser Haltung wurden bereits in seiner Kindheit gelegt und haben sich im Laufe seines Lebens gefestigt. In seinen Lebenserinnerungen schreibt er: „Ich war mir damals wie immer bewusst, dass ich nur ein Werkzeug in der Hand Gottes gewesen bin.“ Das Symbol des Kreuzes auf der Flagge des Roten Kreuzes erinnert noch heute an dieses Zeugnis und den gläubigen Mann, der in der Notsituation ganz richtig erkannte: „Einer muss doch anfangen!“
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Buchtipp: Lothar von Seltmann: Henry Dunant: „Visionär und Vater des Roten Kreuzes – eine Romanbiografie“, SCM Hänssler, 288 S., 24.50 Fr. /15.95 €, ISBN: 978-3-7751-5017-0, im Buchhandel erhältlich
Von Beatrice Gall