Ist es ethisch gerechtfertigt, mehr Corona-Todesfälle in Kauf zu nehmen, um dafür langfristige Folgen gering zu halten? Und gebietet ein Virus, das jeden zum potentiellen Gesundheitsrisiko anderer macht, die soziale Isolation? Der deutsche Philosoph Berthold Wald über Tugendethik in Corona-Zeiten.
Von Dominik Lusser
Zukunft CH: Herr Professor Wald, um gleich vorweg allfälligen Missverständnissen vorzubeugen: Können Sie kurz skizzieren, was unter Tugendethik zu verstehen ist, und die Tugenden benennen, die in unserem Kontext von Bedeutung sind?
Wald: Zu wissen, was im konkreten Fall gut und richtig ist und das als gut Erkannte gegen äussere und innere Widerstände dann auch zu tun, fällt nicht immer leicht. Normative Überzeugungen allein genügen dazu nicht. Sittlich gut zu handeln, ist vor allem eine Frage des Charakters oder wie es einmal geheissen hat, der Tugend. Damit ist das Richtigsein des Menschen gemeint im Erkennen und Wollen, in der Furcht und im Begehren. Richtig ist, wer sich um der Gerechtigkeit willen allein von der Sache bestimmen lässt. Tugenden wie Klugheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit und Selbstbeherrschung sind Charaktereigenschaften, die wir benötigen, um richtig zu urteilen und gut zu handeln. Man kann nicht gerecht sein und handeln, ohne zuvor klug zu sein.
Zukunft CH: Die Klugheit wird als die Mutter der sittlichen Tugenden bezeichnet. Inwiefern ist sie auch für den richtigen Umgang mit Corona unverzichtbar?
Wald: Derzeit geht es ja vor allem um die Antizipation grosser Übel und deren Vermeidung, was zu beurteilen nicht leicht ist und darum umfassender Information und kluger Abwägung der Handlungsfolgen bedarf. Da muss man fragen: Welche Schutzmassnahmen sind sachlich geboten und verantwortbar? Und hier gibt es entgegen dem von Politik und Medien erzeugten Eindruck grosse Unsicherheit und auch begründete Zweifel, wenn man die Bedenken gegen die Erhebungsverfahren, Interpretation und Korrelation der Daten ernst nimmt. Führende Epidemiologen wie John Ionnadis (Stanford University) sprechen von einem Evidenzfiasko, Palliativmediziner wie Lungenärzte kritisieren die bisweilen sinnlose Praxis der Intubation bei schwer vorerkrankten, meist älteren Patienten, und Hamburger Gerichtsmediziner weisen darauf hin, dass bei den „Corona-Toten“ regelmässig erhebliche Vorerkrankungen festzustellen sind. Vieles deutet darauf hin, dass solche Patienten zwar mit Corona, aber nicht monokausal durch Corona gestorben sind. Die zur Akzeptanz der drastischen Grundrechtsbeschränkungen anfangs beinahe täglich gesteigerte Prognose bei der Sterblichkeit war schon damals mit Sicherheit falsch und das Ausbleiben der Massensterblichkeit nicht die Folge effizienter Corona-Prävention. Es gehört zur Tugend der Klugheit, sich trotz Zeitknappheit ein umfassendes Bild der Sachlage zu machen, bevor man handelt, indem man gut begründete Urteile nicht von vornherein ignoriert und Entscheidungen auch revidiert, wenn das sachlich geboten ist.
Zukunft CH: Wenn das ethisch Richtige das Sachgemässe ist, stellt sich dann nicht vordringlich die Frage, was dem Menschen gemäss ist?
Wald: Es geht beim sittlich richtigen Handeln um Gerechtigkeit, ohne die ein friedliches menschliches Zusammenleben nicht möglich ist. Die Tugend der Gerechtigkeit hat es mit dem zu tun, was dem anderen zusteht, also was zu tun oder zu lassen ihm geschuldet ist. Das ist ein weiter Bereich, vom blossen moralischen Anstand bis hin zu unveräusserlichen Rechten der Person. Mit der Einschränkung oder klarer gesagt, der zeitweisen Aufhebung elementarer Grundrechte durch den Staat stehen derzeit wirklich die Grundlagen unseres Zusammenlebens auf dem Spiel. Dies gilt auch für eine zeitlich befristete Aufhebung von Grundrechten, wo sie dem Schutz der menschlichen Würde zuwiderläuft. Die Frage, was jemandem gerechterweise zusteht oder zu lassen ist, kann nicht beantwortet werden ohne eine dahinterstehende Auffassung vom Menschen. Das oberste Rechtsgut, das zu schützen der Staat und die internationale Gemeinschaft verpflichtet sind, ist laut UNO-Charta und Grundgesetz „die Würde des Menschen“ und nicht die Erhaltung des Lebens um jeden Preis. Massnahmen, welche die Würde missachten und verletzen, sind unentschuldbar grundrechtswidrig und darum ungerecht, so vor allem die komplette soziale und seelsorgliche Isolation von Schwerkranken und Sterbenden. Der Mensch ist Person und nicht bloss ein für sich und andere riskantes biologisches Substrat. Es widerspricht der Würde des Menschen, ihn darauf zu reduzieren, potentieller Virusträger bzw. Opfer einer Viruserkrankung zu sein, das isoliert werden muss zum eigenen Schutz wie zum Schutz der anderen. Manches von dem, was hier staatlicherseits angeordnet und von den Kirchen widerspruchslos hingenommen wird, ist schweres Unrecht.
Zukunft CH: Ist die politische Haltung des Abwägens, die mehr Corona-Todesfälle in Kauf nimmt, um langfristige Folgen sozialer, wirtschaftlicher und gesundheitlicher Art gering zu halten, tugendethisch zu rechtfertigen? Oder ist das utilitaristisch gedacht?
Wald: Zur Frage der Grenzen bei der Abwägung staatlicher Eingriffe ist zunächst zu bedenken: Bis zur Corona-Krise hat der Staat aus guten Gründen darauf verzichtet, in das private Lebensrisiko von Menschen durch Verbote einzugreifen, die sich durch eine ungesunde und gefährliche Lebensweise in Gefahr bringen. Das sind jährlich Hunderttausende (Herz-Kreislauf, Diabetes, Lungenerkrankung), die nicht so früh zu sterben brauchten. Sie stecken zwar niemanden an, verursachen aber ganz erhebliche volkswirtschaftliche und soziale Schäden, von denen auch Unbeteiligte betroffen sind. Doch wird der Tod dieser Menschen in Kauf genommen und es wird zu Recht auf Zwangsmassnahmen verzichtet, weil es die Würde des Menschen nicht zulässt.
Zukunft CH: Und was muss der Staat berücksichtigen, wenn er in einer besonderen Lage doch eingreift?
Es gibt natürlich eine Pflicht zur Abwägung, die der sittliche Normallfall bei den meisten, auch staatlichen, Handlungen ist, wenn es gerecht zugehen soll. Innerhalb des sittlich Erlaubten können solche gebotenen Abwägungen je nach Zuständigkeit des Verantwortungsträgers eine unterschiedliche Reichweite haben. Im Fall der staatlich verordneten Corona-Einschränkungen wird diese Pflicht zu umfassender Abwägung jedoch weitgehend ignoriert, nachdem die Vermeidung von Infektionstoten und die Unterbrechung der Infektionsketten zum obersten Handlungsziel der Politik erklärt wurde, dem alle anderen Bereiche des menschlichen Zusammenlebens unterzuordnen sind. Jedermann kann grundsätzlich wissen, dass eine weitgehende und andauernde Störung der wirtschaftlichen und sozialen Wechselbeziehungen der Menschen auf familiärer, lokaler, nationaler und globaler Ebene Schäden verursachen wird, die den Nutzen der Schutzmassnahmen weit übertreffen werden. Hier abzuwägen, heisst nicht, utilitaristisch das Glück einer grösseren Zahl dem Leid einer geringeren Zahl überzuordnen, wenn es so ist, dass durch einseitigen Abwägungsverzicht das Leben und die Zukunft aller gefährdet wird. Ein funktionierendes und leistungsfähiges Gesundheitssystem existiert nur solange, wie es finanzierbar ist, ganz abgesehen von den anderen steuer- und beitragsfinanzierten sozialen Sicherungssystemen. Auch das kann jedermann wissen.
Zukunft CH: Dürfen es die Bürger hinnehmen, wenn ein Staat massiv unklug und ungerecht handelt?
Wald: Das läuft auf die heikle Frage hinaus, ob es eine Pflicht gibt, einem staatlich verordneten (und kirchlich tolerierten) Übel zu widerstehen. In tugendethischer Perspektive gefragt: Wenn Widerstand gegen das gegenwärtig verübte staatliche (und kirchliche!) Unrecht an wehrlosen Menschen (Kranken, denen der seelsorgliche Beistand verweigert wird) geboten erscheint, ist dann nicht die Haltung der Tapferkeit gefordert? Nach meinem Eindruck herrschte in den letzten Monaten eine unglaubliche Stille unter denen, die angesichts der selektiven Informationsweitergabe durch Medien und Politik berufen gewesen wären und sich sonst auch berufen fühlen, für das Gemeinwohl einzutreten durch ihr Wort. Ist solches Schweigen nicht am Ende Feigheit?
Zukunft CH: Wie eine Krise ausgeht, hängt somit nicht nur vom Staat ab. Jeder Bürger kann – auch ohne es zu wissen – andere mit dem Virus anstecken und vielleicht am Ende einer kürzeren oder längeren Ansteckungskette auch den Tod eines Menschen verursachen (was ja auch für jede Grippe gilt). Lässt sich daraus die ethische Verpflichtung ableiten, alle sozialen Kontakte einstellen?
Wald: Diese Frage ist von grosser Tragweite, aber doch relativ leicht zu beantworten. Zunächst: Handlungen sind nur dann Handlungen, wenn sie auf Wissen und Vorsatz beruhen. Schuldhaft sind sie dann, wenn wissentlich und vorsätzlich jemandem Unrecht getan wird. Nicht jeder Schaden, den ich anderen ohne mein Wissen und ohne Absicht zufüge, ist Unrecht und schuldhaft. Ich kann nie die Gesamtfolgen meines Handelns überblicken, wozu ich in der Position Gottes sein müsste. Darum gibt es in der Welt der Menschen echte Tragödien, die durch keine Ethik zu vermeiden sind. Wer die Ethik darauf auszudehnen versucht, zerstört sein Leben, wie schon Sophokles’ „König Ödipus“ zeigt.
Zukunft CH: Sie plädieren für eine Ethik, die dem menschlichen Erkenntnisvermögen angemessen ist?
Wald: Die moralischen Anstrengungen, die Welt in Ordnung zu bringen, die insbesondere von Intellektuellen gefordert werden, sollten uns nicht darüber täuschen, dass die moralische Ordnung des Handelns an ihren Rändern an die Dunkelheit einer unvorhersehbaren Zukunft grenzt. Ralph McInerny macht dazu in der Einleitung zu „Ethica Thomistica“ eine erhellende Bemerkung zur Ethik des Thomas von Aquin: „Die moralische Ordnung (…) erscheint als ein kleiner erleuchteter Bezirk inmitten von Dunkelheit. Die moralische Ordnung umfasst nicht das ganze menschliche Leben. (…) Thomas konzentriert sich vernünftigerweise auf die menschliche Handlung (…), er ist sich ganz im Klaren, dass diese Handlungen nicht die ganze Geschichte unseres Lebens erzählen.“
Zukunft CH: Die Tatsache, dass wir das eigene Leben nicht im Griff haben können, ist für viele Menschen existentiell schwer zu ertragen. Kommen da noch andere Tugenden ins Spiel?
Wald: Jeder Mensch wird früher oder später vor die Frage gestellt, was der Tod für ihn und für andere bedeutet, die er liebt. Man kann dieser Frage auszuweichen versuchen, solange es geht. Man kann aber auch die Erfahrung zulassen, wenn man denn das Glück hatte, sie zu machen, dass es Menschen gibt, deren Hoffnung sich über den Tod hinaus auf ein Leben richtet, das uns nicht mehr genommen wird und das alle menschliche Sehnsucht nach Glück auf unvorstellbare Weise übertrifft. Menschen, die mit einer solchen Hoffnung leben und aus einer solchen Hoffnung heraus handeln, sind so, weil sie glauben und weil sie lieben: Gott zuerst und mit ihm jeden Menschen, dem er das Leben geschenkt hat. Glaube, Hoffnung und Liebe sind christliche Tugenden, die über die natürlichen Tugenden Klugheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit und massvolle Selbstbeherrschung hinausgehen. Es waren vor allem Christen, die in den wiederkehrenden Pestzeiten unter Lebensgefahr den Kranken und Sterbenden beigestanden sind und durch das Zeugnis ihrer Hoffnung und ihrer Liebe den Glauben an Christus im Volk lebendig erhalten und verbreitet haben.
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Prof. Dr. Berthold ist emeritierter Professur für Systematische Philosophie der Theologischen Fakultät Paderborn.