Das Klima-Urteil im April 2024 hat den EU-Kritikern im Hinblick auf die geplanten neuen EU-Abkommen neuen Auftrieb verliehen. Diese Verträge stellen die Schweizer Demokratie in ihren Grundfesten in Frage.
Ein Kommentar von Ralph Studer
Seit dem Urteil „KlimaSeniorinnen gegen die Schweiz“ hat sich in der Politlandschaft hierzulande einiges bewegt. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hob in diesem Fall kurzerhand ein neues Menschenrecht auf Klimaschutz aus der Taufe. Und dies, obwohl die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) keine Grundlage dafür bietet und dies auch von den Mitgliedstaaten des Europarats nicht gewollt ist.
Der Entscheid zeigt exemplarisch, wie die Journalistin Katharina Fontana schreibt, dass internationale Gerichtshöfe sich nicht abhalten lassen, das Recht nach ihren Vorstellungen oder nach ihrer „Agenda“ weiterzuentwickeln. Gleiches gilt auch für den Europäischen Gerichtshof in Luxemburg (EuGH), dem im Rahmen der geplanten Abkommen zwischen der Schweiz und der EU eine bedeutende Rolle zukommt.
„Heisses Eisen“
Aus den Vertragstexten der geplanten EU-Abkommen ist bekannt, dass die Schweiz (bei Annahme) sich künftig verpflichtet, neues EU-Recht „dynamisch“, also automatisch, zu übernehmen und einen Mechanismus zur Streitbeilegung zwischen der Schweiz und der EU zu akzeptieren. Diese institutionellen Regeln sollen in den bestehenden Marktabkommen (darunter die Personenfreizügigkeit) wie auch in den drei angestrebten zusätzlichen Abkommen (darunter Strom) künftig gelten. Dieses „heisse Eisen“ fassen die Befürworter des Vertragspakets bislang nur ungern an. Denn dieses hat es in sich.
Gemäss Ausführungen der EU hätte die Schweiz künftig die EuGH-Rechtsprechung umfassend anzuwenden, und zwar „für alle diese Abkommen, unabhängig davon, ob sie vor oder nach dem Inkrafttreten des Pakets ergangen ist“. Damit müsste die Schweiz, so Fontana, „die bisherige Praxis zum Unionsrecht wie auch die künftige Praxis übernehmen, sofern sie in den Bereich der Personenfreizügigkeit, des Stroms oder der anderen Abkommen (wie Landverkehr, Gesundheit, Lebensmittel) fällt“. Das ist unzweifelhaft ein harter Brocken für die Schweiz und nur schwer verdaulich.
Schweiz bereits heute von EuGH-Rechtsprechung beeinflusst
„Die Übernahme der EuGH-Rechtsprechung ist für die Schweiz nichts grundsätzlich Neues“, hält Fontana weiter fest. Bereits jetzt übernimmt das Schweizer Bundesgericht oft die Rechtsprechung des EuGH und weicht nur in begründeten Fällen davon ab. Zum heutigen Zeitpunkt ist offen, ob und inwieweit künftig weiterhin Raum bliebe für autonome schweizerische Lösungen in den Bereichen, welche die Abkommen betreffen.
Macht und Einfluss der Richter würden steigen
Eine Annahme dieser Verträge hätte für das Schweizer Staats- und Demokratieverständnis gravierende Folgen, um nicht zu sagen, sie sind mit unseren freiheitlich-demokratischen Gepflogenheiten unvereinbar. Der Zürcher Europarechtler Matthias Oesch bringt es auf den Punkt: „Das Grundverständnis über die Rolle der Politik, des Rechts und der Gerichte bei der Lösung von Konflikten in der EU steht in augenfälligem Kontrast zu der in der Schweiz traditionell vorherrschenden Zurückhaltung, Konflikte zu entpolitisieren und ihre Lösung einer gerichtlichen Instanz zu überantworten.“
Während die Bedeutung der Justiz, insbesondere auch des EuGH wachsen würde, nähme diejenige des Schweizer Parlaments und des Volks ab. „Rechtsänderungen“, hebt Fontana hervor, „könnten vermehrt von Richtern getroffen werden, ausserhalb der parlamentarischen und demokratischen Verfahren und auch in politisch heiklen Bereichen.“ Dies ist ein wichtiger Aspekt, der in den kommenden Debatten rund um diese EU-Abkommen besondere Aufmerksamkeit verdient.
Zu Lasten von Parlament und Volk
Vom „Diener des Rechts“ würden die Richter so zum ungebremsten Motor der Rechtsentwicklung. So könnten diese faktisch mehr und mehr die Funktion eines „Gesetzgebers“ übernehmen, was die Gewaltenteilung in eine arge Schieflage brächte. Das Klima-Urteil spricht hier Bände. Und dies alles zu Lasten des Schweizer Parlaments, des Volks und letztlich unserer Demokratie.