Mit dem heute vorliegenden institutionellen Rahmenabkommen Schweiz-EU prallen zwei Welten aufeinander. Einerseits die Schweiz mit ihrer gewachsenen, dezentralen, direktdemokratischen und bürgerschaftlichen Demokratie, andererseits die EU mit ihrer stark auf die Verwaltung, Exekutiven und Judikativen konzentrierten Organisationsform.
Es ist auf der einen Seite das Bottom-up-System der Schweiz, welches einfach, verständlich, bürgernah und auf Vielfalt ausgerichtet ist. Auf der anderen Seite steht eine Institution, die auf sehr komplexen, intransparenten Prozessen und auf Vereinheitlichung und Mechanismen gebauten Prinzipien beruht. Da die Schweiz mit dem vorliegenden Abkommen institutionell eingebunden wird und sich daher der EU angleichen soll, fragt sich, was mit unserer demokratischen Kultur passieren würde.
Die Schweizer Demokratie ist keine klassische Demokratie. Gleichwohl haben wird etablierte, stabile und verlässliche Strukturen, die natürlich auch klassische demokratische Züge vorweisen, jedoch über das gesamte Staatswesen die Kultur des Bottom-up und des Unkonventionellen integrieren. Neben den stark ausgebauten und erprobten Elementen der direkten Demokratie (z.B. Volksinitiative und Referenden) und des Föderalismus müssen noch andere, zahlreiche Elemente erwähnt werden. Es geht beispielsweise um unsere Anhörungs- und Vernehmlassungskultur. In der Schweiz sind der Bundesrat und das Parlament verpflichtet, Gesetzesentwürfe zur Disposition zu stellen und eine Frist abzuwarten. Alle können sich dabei äussern und einbringen.
Weiter ist auch unser Milizprinzip interessant. Dahinter steckt die Idee des „embedded state“. Staatliche Angelegenheiten sollen von der Bevölkerung getragen werden. Die Politik und der Staat sollen mit der Gesellschaft verbunden bleiben. Zudem soll das Know-how aus der Zivilgesellschaft und Wirtschaft nutzbar gemacht und integriert werden. Es geht um Vertrauen. Partizipation soll nicht etwas Einmaliges und nur Legislatives sein. Auch bei der Ausarbeitung und Umsetzung von Gesetzen und staatlichen Massnahmen sollen die Bürgerinnen und Bürger sich engagieren. Es gäbe hier noch viel aufzuzählen, etwa dass die Schweiz keine Hauptstadt (vgl. hier, Anm. Redaktion), kein Staatsoberhaupt und keinen Regierungschef hat, dafür ein Mehrparteiensystem, Proporzwahlrecht, eine Konkordanzregierung, wechselnde Mehrheiten, vier Landessprachen, etc. Das alles sind Sonderbarkeiten und gleichzeitig Spezialitäten der Schweizer Demokratie. Sie sind alle verbunden und Ausdruck einer gelebten Bottom-up-Kultur. Es ist eine Kultur, die Experimente und Vielfalt zulässt, sowie Reflexion und Inklusion garantiert.
Rahmenabkommen ist Ausdruck einer Top-down-Kultur
Im krassen Gegensatz dazu ist das vorliegende institutionelle Rahmenabkommen mit der EU Ausdruck einer Top-down-Kultur, die auf Intransparenz, mechanische Instrumente und Zentralismus setzt. Es wird beispielsweise in Artikel 15 ein sogenannt „Horizontaler Gemischter Ausschuss“ geschaffen, der über alle bereits bestehenden und funktionierenden Gemischten Ausschüsse der einzelnen bilateralen Abkommen gestellt wird. Es wird völlig unübersichtlich zwar ein „Schiedsgericht“ eingerichtet, welches aber gemäss Artikel 4 Absatz 2 und Artikel 10 Absatz 3, sowie Artikel III. 9 Protokoll 3 dem EU-Gerichtshof EuGH inhaltlich unterstellt wird. Zudem wird in Artikel 11 auch das Schweizer Bundesgericht im Sinne einer „einheitlichen Auslegung“ an den EU-Gerichtshof gekoppelt.
Es entstehen darüber hinaus auch noch neue zentrale Gremien zwischen der Schweiz und der EU (etwa ein Gremium für Handelsfragen oder ein gemischter parlamentarischer Ausschuss), sowie innerhalb der Schweiz. Insbesondere wird eine zentralistische Überwachungsbehörde auf Stufe Bund für die Überwachung der staatlichen Beihilfen nötig werden, was ein starker Eingriff in unsere dezentralen Strukturen bedeutet. Juristen sind zudem der Meinung, dass die EU-Kommission gemäss Artikel 10 Absatz 2 indirekt als Überwachungsbehörde über die Schweiz wachen könnte.
Bewährte Schweizer Strukturen verlieren Bedeutung
Generell muss erwähnt sein, dass die EU-Kommission als Exekutive der EU sowie der EuGH als Judikative der EU einerseits nicht neutrale Institutionen sind gegenüber der Schweiz, sondern Akteure der Gegenpartei. Sie sind andererseits auch nicht gleich demokratisch legitimiert, wie die Schweizer Institutionen. Die EU-Kommission wird sogar als technokratisches Konstrukt bezeichnet. Es gibt in der EU keine klare Gewaltenteilung wie in einem klassischen Nationalstaat. Über lange Delegationsketten wird Recht geschaffen und staatliches Handeln umgesetzt. Es gibt keine ebenbürtige Legislative zur Macht der EU-Kommission, zum Einfluss des EuGH, geschweige denn zu den Ministerräten und dem Rat der Regierungs- und Staatschefs. Die EU wird sogar als sogenannte Mehrebenenbürokratie oder Komitologie kritisiert. Die Form der Demokratie wird auch als gubernative Demokratie bezeichnet. Negativ interpretiert kann von einer Art gelenkter Demokratie gesprochen werden. In der politischen Philosophie werden viele dieser Themen auch unter dem Stichwort Demokratie- oder Partizipationsdefizit der EU behandelt.
Mit dem Rahmenabkommen werden genau solche Werte und institutionelle Settings über die Schweiz gestülpt. Formell wird teilweise die Schweizer Kultur aufrechterhalten, aber im Kern und materiell werden unsere Gerichte, unser Parlament, unsere dezentralen Strukturen und die direkte Partizipation unterlaufen. Die politischen Rechte werden geschwächt und die Bottom-up-Kultur der Eigenverantwortung, der Vielfalt und des Engagements werden unterlaufen.