Der folgende Vortrag wurde von Grégor Puppinck (Direktor des Europäischen Zentrums für Recht und Justiz (ECLJ)) beim Seminar der EC/DA-Politikgruppe des Europarates am 2. Juni 2023 in Budapest gehalten.

Sehr geehrte Frau Ministerin, sehr geehrte Frau Staatssekretärin, sehr geehrte Mitglieder der Parlamente, sehr geehrte Damen und Herren, es ist mir eine besondere Freude und Ehre, heute bei Ihnen zu sein und zu Ihren Überlegungen beitragen zu können und so, wie ich hoffe, Ihr politisches Handeln zu nähren.

Das Thema, das Sie mir anvertraut haben, ist sehr breit gefächert und ich werde es daher in Kurzform behandeln. Mein Referat wird aus schnellen Antworten auf vier wesentliche Fragen bestehen:

Warum sollte man die Familie zerstören?
Warum soll die Familie verteidigt werden?
Gegen welche Bedrohungen?
Wie kann man die Familie verteidigen?

Wenn es nur einen einzigen Gedanken gibt, den man aus meinem Vortrag mitnehmen kann, dann ist es das Konzept der „familiären Freiheiten“. Familien sind natürliche menschliche Realitäten, sie haben daher natürliche Bedürfnisse und Rechte, und diese Rechte können umfassend im Konzept der „familiären Freiheiten“ verstanden werden. Dies wird das Fazit meines Vortrags sein.

Warum sollte man die Familie zerstören?

Ich sehe vier Hauptgründe:

Weil die Familie gegen die Gleichheit der Individuen verstösst, sowohl zwischen den Familien als auch innerhalb der Familien.
Weil die Familie gegen die Freiheit der Individuen verstösst, da sie kulturelle und religiöse Bedingtheiten weitergibt und biologische Bindungen aufzwingt.
Weil die Zerstörung der Familie zum Wirtschaftswachstum beiträgt, weil sie zum einen die Zahl der Erwerbstätigen erhöht und zum anderen Tätigkeiten, die bisher innerhalb der Familie unentgeltlich ausgeführt wurden, in den Handel bringt.
Und schliesslich, weil die Zerstörung der Familie die Macht des Staates über die Menschen stärkt.

Im Namen eines bestimmten Verständnisses von Freiheit und Gleichheit unterstützt die Zerstörung oder Schwächung der Familie also das Wirtschaftswachstum (kurzfristig) und erhöht die Macht des Staates (langfristig).

Warum also die Familie verteidigen?

Ich sehe noch vier weitere Gründe:

Weil die Familie der Ort ist, an dem das Leben und das materielle und immaterielle Vermögen weitergegeben werden.
Weil die Familie der erste und wichtigste Ort der menschlichen Entwicklung ist; in der Familie lernt jeder Mensch, ein Mensch zu werden.
Die Familie ist der letzte Ort der Widerstandsfähigkeit und Resilienz in Krisenzeiten.
Weil die Familie das beste Gegenmittel gegen Individualismus, Egalitarismus, Etatismus und die Kommerzialisierung der menschlichen Beziehungen sowie gegen Ideologien ist, denn die Familie ist eine natürliche Realität.

Gegen welche Angriffe muss die Familie verteidigt werden?

Familien werden auf ihren vier konstituierenden Ebenen angegriffen:

Die Angriffe auf die Weitergabe des Lebens und die Schönheit der menschlichen Sexualität.
Angriffe auf die Weitergabe des immateriellen (kulturellen und religiösen) Erbes der Familien, insbesondere auf die Erziehungsrechte der Eltern.
Angriffe auf die Weitergabe des materiellen Vermögens der Familien durch eine konfiskatorische Besteuerung, insbesondere der Erbschaft.
Angriffe auf die physische Einheit der Familien, nicht nur durch Scheidungen und das Phänomen der Einelternfamilien, sondern auch ganz allgemein durch die Verringerung der täglichen Zeit, die in der Familie verbracht wird.

All diese Angriffe kennen wir aus eigener Erfahrung. Sie werden von politischen Kräften gewollt und getragen.

Wie können Familien verteidigt werden?

Indem man auf diese verschiedenen Angriffsebenen mit Massnahmen reagiert, die die Bindungen stärken. Diese Bindungen sind natürlich. Es geht also nicht darum, sie erst zu schaffen, sondern sie zu schützen und zu unterstützen, denn sie sind es, die letztlich die Robustheit von Familien und Gesellschaften ausmachen.

Allgemeiner gesagt: Um Familien zu verteidigen und zu unterstützen, muss man vor allem ein richtiges Verständnis der Beziehungen zwischen Familien, Gesellschaft und Staat haben. Darin liegt der Schlüssel. Vom richtigen Verständnis dieser Beziehung hängt die gesamte Familienpolitik ab. Diese richtige Beziehung beruht auf einer faktischen Feststellung: dem Vorrang der Familien vor dem Staat. Familien sind die ersten Gesellschaftsformen und bilden zusammen die nationalen Gesellschaften. Es sind nicht die Staaten, die die Familien bilden, und auch nicht die Gesellschaften, sondern umgekehrt: Es sind die natürlichen Gesellschaften, die den Staat einrichten.

Die Familie ist die erste natürliche menschliche Realität. Da die Familie eine natürliche menschliche Realität ist, hat sie natürliche Bedürfnisse, um sich zu entfalten, d.h. um das Leben und sein immaterielles und materielles Erbe weiterzugeben. Diese Bedürfnisse müssen vom Staat respektiert werden und stellen daher natürliche Rechte dar. Diese natürlichen Rechte der Familien haben einen Namen: „familiäre Freiheiten“. Dieser Begriff umfasst und vereint die wichtigsten Freiheiten, die jede Familie braucht, um sich zu entfalten. Es ist ein konzeptionelles Vehikel – und eine politische Waffe – zur Förderung und Verteidigung von Familien, insbesondere in liberalen Gesellschaften.

Der wesentliche und lebenswichtige Charakter der Familien für die Gesellschaft

Bei der Ausarbeitung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) wurden drei Rechte in einer einzigen Bestimmung mit dem Titel „Familiäre Freiheiten“ zusammengefasst: das Recht, eine Ehe einzugehen und eine Familie zu gründen, der Schutz vor willkürlichen staatlichen Eingriffen in das Familienleben und das Recht der Eltern, ihre Kinder gemäss ihren moralischen und religiösen Überzeugungen zu erziehen. Dies sind die drei grundlegendsten Komponenten der natürlichen Rechte der Familien. Diese Rechte werden nun in der Konvention und dem ersten Zusatzprotokoll in den Artikeln 12, 8 und 2 gesondert aufgeführt. Durch diese Entscheidung hat das europäische Konventionssystem die Familie als natürliche und soziale Realität mit einem besonderen Zweck und besonderen Bedürfnissen und daher mit besonderen Rechten aus den Augen verloren, zugunsten eines rein individualistischen Ansatzes der Menschenrechte. Es ist dieser individualistische Ansatz, der, wie Sie wissen, letztendlich die Auslegung von Artikel 8 gegen die Familien im Namen einer subjektiven und extensiven Auffassung des Privat- und Familienlebens umgekehrt hat.

Es war jedoch die natürliche Auffassung von Familie und Gesellschaft, die den grossen Menschenrechtserklärungen zugrunde lag, wie die Tatsache zeigt, dass es die Familie – und nicht das Individuum – ist, die im Völkerrecht als „natürliches und grundlegendes Element der Gesellschaft“ (Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (AEMR), Art. 12) anerkannt wird, d.h. als eine Gemeinschaft, die ihre Existenz nicht dem Staat verdankt. Seitdem haben sich viele internationale Texte, auch in Europa, dieser natürlichen Beschreibung der Familie angeschlossen. Als „natürliche Umgebung für das Wachstum und Wohlergehen aller ihrer Mitglieder, insbesondere der Kinder“, wie sie in der Präambel des Übereinkommens über die Rechte des Kindes beschrieben wird, hat die Familie „Anspruch auf den Schutz der Gesellschaft und des Staates“ [1], damit sie „ein der Menschenwürde entsprechendes Leben“ (Art. 23.3) führen und „Wohlergehen“ (Art. 25.1) erreichen kann. Geschützt werden nicht nur die einzelnen Personen oder gar das Paar, sondern das gemeinsame Gut, das sie mit der Gesellschaft teilen und das in der Gründung einer Familie besteht [2].

Es handelt sich um ein natürliches und organisches Konzept der Gesellschaft, die nach dem Subsidiaritätsprinzip organisiert ist. Besonders deutlich wird dies im Bereich der Bildung. Laut der AEMR haben „die Eltern mit Vorrang das Recht, die Art der Erziehung ihrer Kinder zu wählen“. Diese Priorität ist Ausdruck der Vorrangigkeit und Überlegenheit der Verantwortung und des Rechts der Eltern gegenüber denen der Gesellschaft; sie wird gegenüber „willkürlichen Eingriffen“ des Staates (EMRK, Art. 12) ausgeübt, dessen Rolle subsidiär bleiben muss. Er muss die Familien so weit wie nötig unterstützen und darf nicht an die Stelle der Eltern treten [3].

Die meisten Verfasser der AEMR und der EMRK waren sich durchaus bewusst, dass Familien für die Gesellschaft wesentlich und lebenswichtig sind und dass eine blühende Gesellschaft auf blühenden Familien beruht. Angesichts des Kommunismus und des Nationalsozialismus waren sich die Verfasser dieser Texte aber auch bewusst, dass die Verteidigung der Familien ein wirksames Mittel im Kampf gegen Ideologien und das autoritäre Abdriften des Staates ist.

Ich ermutige Sie daher, bei der Ausübung Ihres politischen Mandats dieses Konzept der „familiären Freiheiten“ zu vertiefen und zu verbreiten, um auf umfassende Weise auf die Angriffe und Herausforderungen für die Familien in Europa zu reagieren.

 

[1] Ein weiteres Zeichen für dieses subsidiäre und organische Verständnis der Gesellschaft ist die Unterscheidung, die zwischen Staat und Gesellschaft getroffen wird. In der Gesellschaft, die aus dem Gesellschaftsvertrag hervorgeht, gibt es keine Unterscheidung zwischen dem einen und dem anderen: Die Gesellschaft geht vollständig im Staat auf, sie hat keine eigene und frühere vitale Existenz. Diese Unterscheidung impliziert, dass die Gesellschaft vor dem Staat existiert und dass der Staat daher in ihrem Dienst steht.

[2] Artikel 10 § 1 des Internationalen Pakts über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte.

[3] Die Gesellschaft muss eingreifen, um die Unzulänglichkeiten der Eltern auszugleichen, wenn das Kind keine qualitativ ausreichende Ausbildung erhält.

Quelle: www.eclj.org

 

Weitere Informationen zum Thema Ehe und Familie finden Sie in der Fachbroschüre „Plädoyer für die Ehe“. Sie kann über das Bestellformular bezogen werden.