Regelmässig entbrennen hitzige Diskussionen über sogenannte Flüchtlinge, die erst nach der Ausreise aus dem Heimatland zu Flüchtlingen werden, sei es z.B. aufgrund eines Religionswechsels oder einer politischen Tätigkeit. Ins Feld geführt wird dabei einerseits die Missbrauchsgefahr, während anderseits die Aufnahme als humanitäres Gebot aufgefasst wird. Eine Beleuchtung der Thematik, welche in der Rechtswissenschaft mit dem schwerfälligen Begriff der subjektiven Nachfluchtgründe umschrieben wird.
Benjamin Appius, BLaw
Zum besseren Verständnis der Problematik ist vorerst zu erörtern, wie das Schweizer Recht Flüchtlinge definiert. Dabei richtet sich diese Definition in erster Linie nach der Genfer Flüchtlingskonvention und in zweiter Linie nach dem schweizerischen Asylrecht. Beide Definitionen sind zwar im Wortlaut leicht unterschiedlich, aber nicht dem Sinne nach. So gilt eine Person als Flüchtling, die sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Staatszugehörigkeit, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung ausserhalb ihres Heimatlandes befindet und dessen Schutz nicht beanspruchen kann oder wegen dieser Befürchtungen nicht beanspruchen will (Art. 1A Abs. 2 Genfer Flüchtlingskonvention). Eine Person, die als Flüchtling anerkannt wird, muss also fünf Merkmale erfüllen, welche für jeden Einzelfall zu prüfen sind.
Was ist ein Flüchtling?
Erstens muss sie selbsterklärend sich ausserhalb ihres Heimatstaates befinden. Zweitens kommt es darauf an, ob eine Verfolgung im Heimatland besteht. Eine flüchtlingsrelevante Verfolgung ermittelt sich anhand der Intensität der Gefährdungslage und daran, ob die Person tatsächlich Opfer einer gezielt gegen sie gerichteten Verfolgungshandlung ist. Die Verfolgung muss drittens auf einem der oben genannten Verfolgungsmotive zurückzuführen sein, wie z.B. der Rasse oder Religion. Viertens erhält die Person keinen ausreichenden Schutz vor der Verfolgung durch ihren Heimatstaat. Dabei spielt es keine Rolle, ob der Staat selbst Urheber der Verfolgungshandlung ist. Massgebend ist allein die Fähigkeit und Willigkeit zum Schutz der Person durch den Heimatstaat. Schliesslich wird fünftens eine begründete Furcht vor der Verfolgung gefordert. Danach muss eine grosse Wahrscheinlichkeit bestehen, dass die Befürchtung, verfolgt zu werden, in absehbarer Zeit eintrifft.
Flüchtling nach der Ausreise
Die begründete Furcht vor Verfolgung kann sich bei einer Person auch erst im Nachhinein ergeben. Mithin dann, wenn ein nicht verfolgter Ausländer aus seinem Herkunftsland ausreist und später bei einer allfälligen Rückkehr ins Heimatland einer Verfolgung ausgesetzt wäre. Dies wird als „Nachfluchtgrund“ bezeichnet. Je nachdem, worauf der drohende Verfolgungsgrund beruht, wird zwischen objektiven und subjektiven Nachfluchtgründen unterschieden. Unter objektiven Gründen versteht man externe Faktoren, welche durch die asylsuchende Person nicht beeinflussbar sind, z.B. veränderte Umstände im Herkunftsland wie ein Regimewechsel oder religiös bzw. rassisch motivierte Unterdrückungen. Bei subjektiven Gründen hingegen liegen die Ursachen für die allfällige Verfolgung im Verhalten des Asylsuchenden, der seine Persönlichkeit so geändert hat, dass dies zu einer Verfolgung im Herkunftsland führen würde, wie z.B. die Konversion vom Islam zum Christentum (welche in verschiedenen islamischen Ländern zu Verfolgung oder Tod führen kann) oder oppositionspolitische Tätigkeiten.
Zur Begründung der Flüchtlingseigenschaft nach der Genfer Flüchtlingskonvention muss kein direkter Zusammenhang zwischen der aktuell drohenden Verfolgung und der damaligen Ausreise bestehen. Es macht also keinen Unterschied, ob die begründete Furcht vor heimatstaatlicher Verfolgung bereits im Heimatstaat oder erst nachträglich während des Aufenthalts im Ausland eintritt. Beides führt dazu, dass die Person als Flüchtling anzuerkennen ist.
Mutwillig Flüchtling
Als schutzwürdiger Flüchtling gilt auch, wer durch sein Verhalten absichtlich eine begründete Verfolgungsgefahr heraufbeschwört. Die Genfer Flüchtlingskonvention kennt somit keinen Missbrauchsvorbehalt. In jedem Fall müssen jedoch die fünf Flüchtlingsmerkmale, insbesondere die begründete Furcht, nach umfassender Prüfung gegeben sein. Bliebe z.B. die missbräuchliche exilpolitische Tätigkeit einer Person im Heimatstaat unbemerkt, bestünde folglich keine effektive Angst vor Verfolgung. So hat die Person auch keinen Schutzanspruch und gilt somit nicht als Flüchtling.
Am fehlenden Missbrauchsvorbehalt konnte auch eine Gesetzesänderung des Asylgesetzes nichts ändern. Diese wollte vorschreiben, dass Personen mit subjektiven Nachfluchtgründen nicht als Flüchtlinge gelten. Die Revision blieb toter Buchstabe, da bereits dieselbe Gesetzesrevision der Genfer Flüchtlingskonvention den Vorrang einräumte.
Flüchtling und Asyl
Die Schweiz unterscheidet zwischen der Flüchtlingseigenschaft und der Asylgewährung. Dabei entscheidet sie autonom über die Asylgewährung, während im Gegensatz die Genfer Flüchtlingskonvention verpflichtend vorschreibt, wer als Flüchtling gilt. So schliesst das Asylgesetz Flüchtlinge, die aufgrund subjektiver Nachfluchtgründe die Flüchtlingseigenschaft erlangten, von der Asylgewährung aus. Dies steht im krassen Gegensatz zu den objektiven Nachfluchtgründen, bei welchen dem Flüchtling Asyl gewährt wird.
Dahinter steckt die Überlegung des Gesetzgebers, allfällige Missbrauchsfälle zu verhindern, da ansonsten jedermann nachträglich die Flüchtlingseigenschaft begründen könnte. Bei der Ausarbeitung des entsprechenden Artikels stand zur Diskussion, diesen auf Rechtsmissbrauchsfälle zu beschränken. Dies wurde jedoch abgelehnt, da man damit vor unlösbaren Beweisschwierigkeiten stehen würde.
Somit werden sämtliche Asylsuchende, die subjektive Nachfluchtgründe geltend machen, ob missbräuchlich oder nicht, aufgrund der Beweisschwierigkeiten in den gleichen Topf geworfen. Dies führt zu der eigentümlichen Konstellation, dass Flüchtlinge, denen bereits im Heimatstaat, z.B. aufgrund einer religiösen Konversion, Verfolgung drohte, Asyl erhalten im Gegensatz zu Flüchtlingen, die ausserhalb ihres Heimatstaates einen Religionswechsel vornehmen. Es darf aber für die Asylgewährung keinen Unterschied machen, ob universale Grundrechte wie die Meinungsäusserungsfreiheit oder Glaubensfreiheit im Heimatstaat oder im Exilstaat ausgeübt werden.
Deshalb wäre es wünschenswert, im Einzelfall den Missbrauch akribisch zu prüfen, auch wenn dies beweismethodisch schwierig sein könnte. Rechtsmissbrauch, auch in Form eines baukastenmässigen Zusammenbastelns von Flüchtlingseigenschaften, darf sich in keinem Fall lohnen. Dies darf aber auch nicht dazu führen, dass Personen, die tatsächlich schutzbedürftig sind, das Asyl versagt bleibt. Nur so ist der Spagat zwischen Missbrauchsprävention und Humanität zu schaffen.