Frankreichs Vorstädte werden von salafistischen Netzwerke dominiert, die heute so einflussreich sind, dass man mit Recht von einem Staat im Staat sprechen kann. Wie sind sie entstanden, was genau zeichnet sie aus und wie gewinnen sie neue Anhänger für den radikalen politischen Islam? Bernard Rougier, Professor für Soziologie und Politologie in der arabischen Welt und Leiter des Centre des Etudes Arabes et Orientales an der Pariser Universität Sorbonne-Nouvelle, ist diesen Fragen zusammen mit Studenten nachgegangen. Vier Jahre lang haben sie einige von Frankreichs berüchtigten Banlieues untersucht, Interviews geführt und ihre Ergebnisse schliesslich in einem Buch zusammengetragen, das nun erschienen ist: Les territoires conquis de l’Islamisme – „Die vom Islamismus eroberten Territorien“.
Von Stefan Frank
Viele seiner Studenten seien Muslime und kämen aus von Salafisten dominierten Pariser Vororten wie Aubervilliers, Champigny, Sevran oder Mantes-la-Jolie, sagte Rougier in einem Interview mit der Tageszeitung Le Figaro. „Sie alle wollten zeigen, wie ihr Glaube durch Netzwerke, die behaupten, Islam zu sein, in Ideologie umgewandelt wurde.“ In den Gemeinden und in Aussagen inhaftierter Dschihadisten hätten seine Studenten immer wiederkehrende Elemente gefunden. „Sie demonstrieren, wie seit dem salafistischen Durchbruch Ende der 1990er und Anfang der 2000er Jahre religiöse Ökosysteme eingerichtet wurden, die mit anderen Einflussquellen im Süden des Mittelmeers verbunden sind.“ Ein auch im deutschsprachigen Raum bekanntes Paradebeispiel: das belgische Molenbeek, wo die Dschihadisten herstammten, die das Massaker von Paris im November 2015 verübten.
Das Herz eines jeden solchen Ökosystems sei die Moschee, so Rougier, insbesondere der informelle Religionsunterricht unter der Woche. Dort sprechen Wanderprediger aus islamischen Ländern, die Lehren verbreiten, deren theologischer Inhalt „oft völlig in Konflikt mit der französischen Gesellschaft steht“. Das zweite Element des Ökosystems sei die islamische Buchhandlung: Dort werden salafistische Schriften verkauft, gleichzeitig sei die Buchhandlung aber, ähnlich wie die Moschee, Ort für Treffen und Austausch. Für junge Männer gebe es zudem noch die Sporthalle oder das Fussballstadion, wo der Körper gestählt wird, wo die Sammelduschen abgeschafft sind und wo in den Umkleidekabinen gebetet wird. Nichtmuslime seien in diesen Sportstätten nicht erwünscht, so Rougier. Andere wichtige Orte: der Halal-Imbiss, wo man sich nach dem Gebet trifft, sowie das Geschäft für islamische Kleidung und Parfums. Auch hier wird salafistische Propaganda verbreitet.
Digitale Moschee
Und schliesslich sind da die Schulen, das Collège oder das Lycée; auch sie sind Teil des Ökosystems. „In Mantes-la-Jolie befindet sich eine Schule, die in Kürze eröffnet wird, in der Nähe einer Moschee mit 5.000 Plätzen. Seien Sie versichert, dass die Schüler von der Verbreitung salafistischer Normen beeinflusst werden“, warnt Rougier. Nicht vergessen dürfe man auch die sozialen Netzwerke im Internet – Rougier spricht von der „digitalen Moschee“.
In Frankreichs Vorstädten – das sagt bereits der Titel des Buches – haben die Salafisten ein engmaschiges Netz der sozialen Kontrolle errichtet. „In einigen Städten rauchen wir nicht mehr auf den Strassen“, wird ein Einwohner von Saint-Denis im Buch zitiert. Frauen unterhielten sich nicht mehr laut vor dem Haus. Liebespaare hielten nicht mehr Händchen. Auch Musik könne man nicht mehr hören. Die Bewohner seien beinahe wie Gefangene der umma, der muslimischen Gemeinschaft. In Trappes sind alle Metzger halal, ebenso im Stadtteil Rose-des-Vents in Aulnay-sous-Bois. Das dortige Strassenbild beschreibt das Buch so:
„An diesem Dienstag, dem 31. Dezember, dem Markttag, sind die Temperaturen am Gefrierpunkt, man sieht einen strahlend blauen Himmel und verschleierte Frauen. Einige verschwinden unter dem Tschador, der nur ihre Gesichter zeigt. In den Gerüchen von Minze und Zitrusfrüchten sind die Gänge mit Ständen loser Kleidung, islamischen Schleiern und religiösen Büchern gesäumt. Männer rauchen vor überfüllten Bars. Drinnen keine Frau. ‚Der Zugang ist ihnen nicht verboten’, sagt eine Aulnaysienne, ‚aber hier denken wir, dass Frauen in einem Café nichts zu suchen haben!’“
Rougier erklärt:
„In den 1980er und 1990er Jahren erlebte die muslimische Welt eine stille Revolution mit dem Triumph einer salafistischen Version des Islam …. Dann wurde diese exportiert. Insbesondere in Frankreich, wo viele Kämpfer der algerischen bewaffneten islamischen Gruppe (GIA) Zuflucht gesucht haben.“
Kommunistische Bürgermeister, denen seit Anfang der 1970er Jahre das Industrieproletariat abhanden gekommen war, stürzten sich begeistert auf die neue Klientel. Sie wurde in das System von gegenseitigen Gefälligkeiten, das sich vorher schon in den Kommunen etabliert hatte, einbezogen: Unterstützung und Räume für Moscheen und islamische Zentren gegen Stimmen. Dabei half die Ideologie, die sich um Schlagwörter wie „Antikolonialismus“, „Antirassismus“ und später dann „Islamophobie“ rankte. Aus Sicht von Salafisten wiederholt sich in Frankreich der Kampf für die Unabhängigkeit Algeriens: Auch Frankreichs Muslime müssten „befreit“ werden – von der französischen Gesellschaft. So sagt der salafistische Prediger und Buchautor Aïssam Aït-Yahya:
„Ja, es ist immer noch dieselbe kolonialistische Politik, und ich habe ausführlich die algerische Geschichte studiert. Warum? Weil die algerische Geschichte eine grundlegende Geschichte ist, um zu verstehen, was das System tatsächlich von den Muslimen will. Wie das System den Islam und die Muslime auf Abwege bringt. Wer also die algerische Kolonialgeschichte liest, wird nicht einmal den Eindruck haben, ein Geschichtsbuch zu lesen, er wird den Eindruck haben, ein zeitgenössisches Buch zu lesen, das von den gegenwärtigen Muslimen in Frankreich handelt.“
Von den vier Millionen französischen Muslimen werden rund 50.000 den Salafisten zugerechnet. Les territoires conquis de l’Islamisme zeigt, wie sie den öffentlichen Raum nutzen, um die Bewohner ihrer Viertel in die Moscheen zu locken. Jeden Tag machen Missionare die jawla, was übersetzt „Rundgang“ bedeutet. Sie gehen an die Orte, die die Kommunen für unbeschäftigte Jugendliche eingerichtet haben, wo junge Arbeitslose und Schulschwänzer rumhängen und Fussball gucken oder Videospiele spielen. Sie fragen sie, aus welchem Land sie seien und ob sie schon daran gedacht hätten, was nach dem Tod komme. Die Erstansprache eines Missionars der salafistischen Organisation Tabligh, die im Buch zitiert wird, geht so:
„Ich finde das erstaunlich: Jeder weiss, dass der Tod eine Realität ist. Ob Muslim oder nicht, jeder wird sterben. In der dunia [im Diesseits] kennst du alles. … Du kennst alles, mein Bruder. Die Leute sind bereit, für Geld zu töten, aber für Allah tut man nichts. Darum, meine Brüder, gibt es in der Moschee Schriften. Nur fünf Minuten, das wird dem Herzen gut tun. Ein kleiner Defibrillator zum Aufwachen. Die Moschee ist für alle da. Ob Muslim oder nicht, jeder kann kommen, denn der Tod ist für alle. Der Gott der Christen, der Juden, der Muslime, das ist derselbe Gott. Und die Religionen, das folgt daraus. Wir glauben an Jesus. Wir glauben an alle Propheten, und der letzte von ihnen, das ist Mohammed!“
Die jawla richtet sich in erster Linie an junge Männer. Das Ziel ist es, möglichst viele in die Moschee zu holen. Quantität geht am Anfang vor Qualität. Die Indoktrination kommt später: Beim Unterricht, der mehrmals in der Woche an wechselnden Orten des Viertels stattfindet oder bei Wochenendseminaren auswärts. Abends zwischen 18 Uhr und 18.30 Uhr klingeln die Missionare an den Wohnungstüren. Sie sind angewiesen, die Namensschilder an den Briefkästen zu lesen, „um keine Nichtmuslime zu verärgern“. An der Tür treffen sie viele, die sie schon am Morgen gesehen haben und fragen sie, ob sie nicht um 20 Uhr in die Moschee kommen wollen.
Über ihre zahlreichen Vereinigungen verteilen die Islamisten Kleidung und Lebensmittel, auf den Fussballfeldern bieten sie Limonade an, gehen an die Gymnasien und Universitäten. „Salafistische oder verwandte Kreise haben die von der Kommunistischen Partei seit langem strukturierten Geselligkeitsmechanismen übernommen“, schreibt Rougier.
Keinen Schnurrbart tragen
In den Predigten werden die Gläubigen aufgefordert, nicht den Lebensstil der „Ungläubigen“ anzunehmen. Frauen hätten dem Mann zu gehorchen, ein muslimischer Taxifahrer solle keine „schlecht gekleidete“ Frau mitnehmen oder sie zu „verbotenen“ Orten fahren. „Wir raten ihnen, ihren Bart nicht zu rasieren, keinen Schnurrbart zu tragen, sich nicht ‚wie sie’ zu kleiden oder christliche Feiertage oder Geburtstage zu feiern“, sagt ein Prediger gegenüber den Autoren. Auch bei den Kommunalwahlen kandidieren Salafisten. „Ihre Kandidaten zielen auf bestimmte Positionen ab, die für die Eroberung einer Stadt unerlässlich sind.“ Es geht ihnen etwa um die Zuständigkeit für Vereine, Finanzen, Stadtplanung oder frühkindliche Erziehung.
Viele städtische Subventionen würden an Kulturvereine verteilt, die tatsächlich religiöse Aktivitäten organisierten. „Wir vermieten Räume, die zu Kultstätten werden, wir geben Land mit langfristigen Pachtverträgen ab, um Moscheen zu bauen“, sagt Rougier. So habe der Bürgermeister von Aulnay-sous-Bois ein Gymnasium an die Organisation Espérance musulmane de la jeunesse française (EMJF) übertragen. „Der Verband lud drei Fundamentalisten, Dschihadisten, ein, vor 700 Personen zu predigen.“
Während die Salafisten zuerst von der „antikolonialen“ Linken unterstützt worden seien, hätten sie inzwischen Einfluss über alle Parteigrenzen hinweg: „Sie werden sowohl vom linken als auch vom rechten Bürgermeister ermutigt.“ Wahlen nämlich würden oft von ein paar hundert Stimmen entschieden. Die Folge: „In Aubervilliers sind gewählte Beamte, die für Jugend und Beschäftigung zuständig sind, Teil einer Vereinigung, die die Gleichstellung der Geschlechter anprangert und die republikanische Schule diskreditiert.“
Rougier ist davon überzeugt, dass die Salafisten in Frankreich dieselben Taktiken zur Eroberung des öffentlichen Raums anwenden mit denen sie in Nordafrika Erfolg hatten:
„Islamistische Ideologen arbeiten an beiden Ufern des Mittelmeers auf die gleiche Weise: Was sie vor 20 oder 30 Jahren im Maghreb und im Mashreq getan haben, tun sie heute in Frankreich. Wie kann man gegen diese Ökosysteme kämpfen? Und was wären die Folgen eines Scheiterns? Die Antwort führt von einer Unterdrückung antirepublikanischer Äusserungen über die Entwicklung neuer Formen der Geselligkeit und die Ermutigung von Reden, die Islamisten ‚alt aussehen lassen’“.
Doch der Staat sei manchmal von den betroffenen Vierteln getrennt. Darum müsse man die Intelligenz vor Ort stärken und auch die akademische Forschung berücksichtigen, Studien wie die, die Rougier und seine Studenten unternommen haben. „Dies aber wird die sehr mächtige islamisch-linke Universität wahrscheinlich verhindern“, so Rougier, solche Arbeiten würden dort „verurteilt“. Sollten die islamistischen Ökosysteme bestehen bleiben, warnt Rougier, „werden sie nach und nach im Namen unserer muslimischen Landsleute sprechen und um Ausnahmen bei der Anwendung des Zivilrechts bitten. Im Falle einer Reaktion oder eines Wahlsiegs der äussersten Rechten befinden wir uns in einem Szenario eines Bürgerkriegs.“
Bernard Rougier (Hrsg.): Les territoires conquis de l’Islamisme. Lonrai, Frankreich, 2020, 360 Seiten.
Quelle: Audiatur Online, 3.3.2020, Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung
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