Sie heissen Lucas, Annabel, Trevor oder Amillia. Und sie haben eines gemeinsam: Sie wurden zu früh, viel zu früh geboren und sind nur dank intensiver medizinischer Versorgung noch am Leben. Doch während um das Leben erwünschter Babys mit allen Mitteln gekämpft wird, werden behinderte Kinder oft in der gleichen Entwicklungsstufe noch abgetrieben.
Von Ursula Baumgartner
Endlich mal eine gute Nachricht: Lucas ist daheim. Das Frühchen aus England war in der 23. Schwangerschaftswoche (SSW) geboren worden und hat fast fünf Monate im Krankenhaus verbracht. Wäre es ein Wettbewerb, würde Trevor diesen allerdings mit Abstand gewinnen: ganze 345 Tage musste er in einer Klinik in North Dakota behandelt und betreut werden, bevor seine Eltern das kleine Wunder entgegen aller anfänglichen Prognosen mit nach Hause nehmen durften.
Probleme bei Frühchen
Von einer Frühgeburt spricht man bei einer Geburt vor der 37. Schwangerschaftswoche. Vor Erreichen der 23. Woche sind Babys meist noch nicht alleine lebensfähig, wobei die extremsten überlebenden Frühchen tatsächlich nach etwas mehr als 21 Wochen geboren wurden. Kommen sie vor der 28. Woche zur Welt, arbeiten die Lungen noch nicht vollständig, der Darm ist noch unausgereift und anfällig für Infektionen, die Haut ist durchscheinend dünn und die Augen extrem lichtempfindlich. Daher versucht man nach einer Frühgeburt, all die Defizite, die das Kleine noch hat, medizinisch auszugleichen. Doch trotz aller medizinischen Bemühungen bleibt oft ein erhöhtes Risiko für Hirnblutungen, Entwicklungsstörungen des Nervensystems, Fehlentwicklung der Netzhaut und Entzündungen des Darms.
Wieviel erfreulicher sind darum Erfolgsgeschichten wie die von Lucas! Und wie traurig sollte es einen stimmen, dass in der Schweiz jährlich 40 bis 50 Ungeborene nach der 23. Schwangerschaftswoche abgetrieben werden, nachdem bei ihnen entweder eine schwere Krankheit diagnostiziert wurde oder ihre Mutter wegen psychischer Belastung einen Abbruch wünscht. Im Nachbarland Deutschland liegt die Zahl sogar bei etwa 600.
Das Messen mit zweierlei Mass
Welch ein Kontrast! Erleidet eine werdende Mutter zu früh einen Blasensprung, verordnet man ihr strenge Bettruhe, um das Kind so lange wie möglich im Mutterleib zu halten. Bei einer Spätabtreibung erhält die Schwangere Wehen auslösende Medikamente, was zu einer frühen Geburt führt. Kündigt sich eine Frühgeburt an, verabreicht man der Mutter oft Kortison, was die Lungenreifung im Mutterleib beschleunigt. Soll ein Kind hingegen nach dem fünften Schwangerschaftsmonat abgetrieben werden, wird es oft zuvor durch Fetozid getötet. Dabei sorgt eine Kaliumchloridinjektion ins Herz oder in die Nabelschnurvene für Herzstillstand. Kaliumchlorid wird u.a. auch beim Einschläfern von Tieren oder bei der Hinrichtung durch die Giftspritze verwendet.
Kommt ein Frühchen zur Welt, bettet man es in einen Inkubator, beatmet es und ernährt es mit einer Magensonde, wenn notwendig. Lebt ein Kind nach seiner Abtreibung noch, wird es in ein Körbchen gelegt, erhält eventuell Schmerzmedikamente und stirbt nach einigen Minuten oder Stunden, oft nach schwerer Atemnot aufgrund seiner unterentwickelten Lunge. All das kann unter Umständen in ein und demselben Krankenhaus geschehen.
Die Angst vor Überforderung
Vor Jahren fragte ich im Biologieunterricht in einer neunten Klasse: „Was macht man, wenn bei einem Ungeborenen eine schwere Behinderung diagnostiziert wird?“ Unisono scholl mir die achselzuckende Antwort entgegen: „Abtreiben!“ Aus dem daraus erwachsenden Gespräch wurde deutlich, dass die Jugendlichen mitnichten eine klare Vorstellung davon hatten, was Abtreibung und insbesondere Spätabtreibung bedeutet. Diese Wissenslücke wäre unbedingt zu schliessen. Dennoch haben viele junge Menschen eine Abtreibung als salonfähige Lösung für eine problematische Schwangerschaft offenbar weitgehend akzeptiert und verinnerlicht – oft genug, wie sich zeigt, aus Unwissenheit.
Darf man darum wirklich davon ausgehen, dass jede Spätabtreibung lediglich aufgrund schwerster psychischer Notlagen zustande kommt? Wie oft raten Ärzte zum Abbruch, obwohl doch auch die Diagnosen nicht immer fehlerfrei sind und bei weitem nicht jede negative Prognose eintrifft? Erinnert sei hier an den Fall Malea, deren Eltern sich vehement gegen ihren Arzt zur Wehr setzen mussten, als der sie zur Abtreibung drängen wollte (s. Artikel: Malea, die Prune-Belly-Heldin). Bekommen die Eltern genug Informationen über den Ablauf der Abtreibung bis hin zum herbeigeführten Herzstillstand? Werden die Mütter darüber aufgeklärt, dass der aktive Part, den sie bei der Abtreibung spielen, indem sie ihr totes Kind zur Welt bringen, sehr belastend sein kann? Wieviel Hilfe wird Eltern mit einer Krankheitsdiagnose ihres Kindes wirklich zuteil? Und ist nicht die Kapitulation vor einer bislang ja nur befürchteten Überlastung die schlimmste Art zu scheitern?
Die Angst vor Behinderung
„Nicht jeder kann mit Behinderten umgehen!“, ist ein häufig zu hörendes Argument, wenn diskutiert wird, ob eine Frau oder ein Elternpaar das Recht habe, sein behindertes Kind abzutreiben. Das mag wohl sein. Viele Menschen haben vielleicht nicht das nötige Gespür oder das medizinische Fachwissen, um einen Behinderten gut zu versorgen und zu pflegen. Doch stellen sich auch hier mehrere Fragen. Erstens: Kann man nicht auch an seinen Aufgaben wachsen? Zweitens: Was ist mit den Kindern, die abgetrieben werden aufgrund einer Diagnose, die gut behandelbar wäre, wie z.B. Lippen-Kiefer-Gaumenspalte? Und drittens: Was ist, wenn ein Kind kerngesund zur Welt kommt und nach ein paar Jahren durch einen Unfall zum Behinderten wird oder lebensbedrohlich erkrankt? Dürfen es die Eltern dann auch töten? „Nein,“ meinte eine Freundin in einem diesbezüglichen Gespräch, „denn dann gibt es ja schon Menschen, die dieses Kind kennen und lieben.“ Dies ist jedoch die haarsträubendste, ungerechteste Basis einer Entscheidung, die man sich vorstellen kann. Denn wenn der Wert eines Lebens und das Recht auf Leben letztlich davon abhängen, ob der Mensch von jemandem geliebt wird oder nicht, öffnet man der Euthanasie auf ziemlich zynische Weise Tür und Tor. Und zu guter Letzt: Was, wenn ein Paar im Nachhinein die Entscheidung, sein Kind abzutreiben, bereut?
Was kann man tun?
Abtreibungszahlen, gerade die der Spätabtreibungen, erfüllen viele mit Betroffenheit. Doch nicht jedem ist es möglich, ein behindertes Kind zu adoptieren, um seinen Tod zu verhindern. Was also kann getan werden für ein lebensbejahendes Umfeld? Nun, die finanzielle Unterstützung bereits bestehender Pro-Life-Organisationen, die Mütter in Schwangerschaftskonflikten begleiten und beraten, ist beispielsweise ein gangbarer Weg. Der Verein „Hope21“ beispielsweise kümmert sich besonders um Familien, die in Erwartung eines Kindes mit Down-Syndrom sind oder bereits ein solches zwar behindertes, aber immer fröhliches Familienmitglied haben. Auch andere auf diese Organisationen aufmerksam zu machen, kann im Ernstfall ein kleines Leben retten.
Wer selber anpacken möchte, muss ja nicht immer auf eine Konfliktsituation warten. Man könnte einen Abend lang auf die Nachbarskinder aufpassen, damit das Paar etwas Zeit für sich hat, einen Einkauf für die Mutter von nebenan übernehmen, einer müden Freundin mit Baby anbieten, für sie die Wohnung zu saugen, der Familie im Nachbarhaus das Auto ausleihen, damit es den Sohn zur Physiotherapie fahren kann, … Gelegenheiten gäbe es viele. Wer im Kleinen Hilfe erfährt oder weitergibt, traut sich auch selbst viel eher Grosses zu. Dass Eltern mit behinderten Kindern Grosses leisten, steht wohl ausser Frage und wir alle sollten mithelfen, sie zu ermutigen und zu unterstützen. Nicht nur Frühchen wie Lucas, sondern auch Kinder mit Beeinträchtigung sollen erleben, dass ihr Leben und ihr Dasein geachtet und wertgeschätzt werden.