Gegen Gender Mainstreaming zu sein, ist ein heikles Unterfangen, fängt man sich doch nicht nur als Privatmensch, sondern auch als Politiker sofort den Vorwurf ein, man wolle Frauen „zurück an den Herd“ schicken oder direkt zurück ins Mittelalter katapultieren. Wer die inzwischen zur Staatsdoktrin gewachsene Ideologie Gender kritisiert, muss verdächtig sein. Antifeministin, Verräterin an der Emanzipation der Frau, am Frauenkollektiv, unsolidarisch mit den Schwestern in Not und als Mann nickt man bestenfalls nur noch brav mit dem Kopf bei jeder neuen Forderung der Szene.

Birgit Kelle

Mindestens scheint es reaktionär, wenn nicht gar fundamentalistisch, sich nicht spontan an der Gender-Welle zu erfreuen, die nun durch ganz Europa schwappt. Eines der hartnäckigsten Gerüchte rund um Gender Mainstreaming besteht nach wie vor darin, dass es sich dabei um nichts anderes handele als um den englischen Begriff für Gleichstellungspolitik. Dass also alles nur geschehe, um die Frau zu fördern und zu retten in allen misslichen Lebenslagen.

So hat selbst die deutsche Caritas inzwischen eine Gender-Beauftragte, weil man modern sein will, obwohl diese nichts anderes tut als vorher als „Frauenbeauftragte“. Dies zeigt beispielhaft, wie mit gut gemeinter Rhetorik sogar unfreiwillig einer Ideologie zu Legitimation verholfen wird. Wenn selbst Organisationen wie die Caritas gendern, dann muss es doch in Ordnung sein, oder? Und so finden sich in Politik, Unternehmen, Instituten und natürlich Universitäten inzwischen überall Emanzipations-Vorzeigeprojekte mit durchaus guter Frauenarbeit, welche aber neuerdings nicht mehr Frauen-, sondern Gender-Projekte heissen. Wundert ja auch nicht: Schreibt man Gender drauf, gibt es derzeit für jeden noch so grossen Unsinn Fördergelder. Gender-Diskriminierung lauert schliesslich überall und muss selbstredend beseitigt werden. Das Problem ist nur: War noch bis vor gar nicht so langer Zeit immer Frau drin, wenn man Gender sagte, ist heute die „Geschlechtervielfalt“ drin, die bekanntlich nichts mit Geschlecht zu tun hat, sondern vielmehr mit Sexualität in all ihren Varianten. Die Frau ist jetzt nicht mehr die einzige Opfergruppe. Tragisch ist nur, dass die gutmeinenden Politikerinnen mit ihren Gender-Projekten dies selbst noch nicht gemerkt haben.

Die aufrechte Feministin von heute empfindet es als unredlich, wegzusehen oder sich nur auf den eigenen Opferstatus zu konzentrieren, wenn doch auch weitere Geschlechter oder Minderheiten vom Herrschaftssystem des alten weissen Mannes unterdrückt werden. Es muss nicht nur die eigene kleine, sondern die ganze grosse Welt gerettet werden.

Der Minderheitenwettlauf

Willkommen im intersektionalen Gender-Feminismus von heute. Es ist eine Art Gender für Fortgeschrittene, bei dem die normale heterosexuelle Frau nur noch Bodensatz im Opfertopf ist, denn obenauf schwimmen jetzt viele weitere diskriminierte „Geschlechter“-Gruppen aber auch sonstige Minderheiten, die im Zuge der Solidarität zwischen den unterdrückten Massen jetzt ebenfalls von Genderaktivisten mit vertreten werden. Intersektional meint dabei die Verbindung zwischen mehreren Diskriminierungspotenzialen und -erfahrungen, was in der Regel zu einer Steigerung des Opferstatus und auch des Betroffenheitsgefühls führt. Ziel ist jetzt nicht mehr die Emanzipation oder gar Gleichberechtigung der Frau, sondern Gerechtigkeit für alle sozialen Geschlechter, sexuellen Identitäten und Orientierungen, aber auch für jene, die wegen Merkmalen wie Herkunft, Hautfarbe, Religion, Körpergewicht und Alter diskriminiert werden. Wir sind jetzt also alle irgendwie Opfer.

Deswegen heisst es nun fleissig Opferpunkte sammeln, um beim Minderheitenwettlauf im Sturm auf die gefühlte Diskriminierungspyramide ganz nach oben zu gelangen. Ach, Sie wurden noch gar nicht diskriminiert? Macht nichts, solange Sie sich dennoch ganz doll so fühlen, sind Sie im grossen Opfertopf mit dabei. Gender lässt niemanden zurück, nicht einmal jene, die es gerne würden. Gefühl sticht inzwischen Fakten, Frau sticht Mann, homo sticht hetero, schwarz sticht weiss, trans sticht gerade alles. Galt persönliche Betroffenheit im Thema früher als Befangenheit, ist es jetzt gar das Top-Qualifikationsmerkmal für Quotenjobs und Studienplätze. Die Zukunft ist nicht weiblich. Ich wage stattdessen die Prognose: Sie gehört der genderfluiden schwarzen Transfrau mit Sexismuserfahrung als Schlüsselkompetenz. Denn je mehr darauf beharrt wird, dass individuelle Merkmale wie Geschlecht, Hautfarbe oder Herkunft keinen Unterschied machen dürfen bei der Verteilung von Macht, Jobs und Rechten, umso mehr werden genau diese Eigenschaften als alles bestimmendes Merkmal sogar betont. Was zählt, ist nicht mehr Leistung, sondern die richtige Identität. Nicht mehr das Individuum, sondern die Zugehörigkeit zur richtigen Opfer-Gruppe.

Was wird tatsächlich gefordert?

Auf den ersten Blick ist das Engagement der Gender-Feministinnen heute also ein durchaus heroischer Denkansatz, den man nicht per se ablehnen kann. Dass man sich auch um den Nächsten kümmern soll und nicht nur um sich selbst, ist ja nicht nur ein feministisches, sondern sogar ein zentrales christliches Gebot. Dass wir den Schwachen zur Seite stehen, die vielleicht gar nicht für sich selbst kämpfen können, ist längst etablierter Grundgedanke jeder zivilisierten Solidargemeinschaft. Theoretisch klingt das also grossartig, wie so vieles auch bei anderen Ideologien; das Problem ist immer die Umsetzung und ihre harte Realität. Man muss sich einfach nur anschauen, was im Namen von Gender Mainstreaming tatsächlich getan oder auch unterlassen wird. Wenn man also nicht auf die wohlformulierten Texte zurückgreift, die überall zum Thema nachzulesen sind, sondern auflistet, was unter dem Stichwort Gender tatsächlich gefordert oder gar umgesetzt wird.

Es ist erstaunlich, mit wie wenig Gegenwehr sich die engagierten Damen das Konzept aus der Hand haben nehmen lassen, oder besser gesagt, sich über den Tisch haben ziehen lassen. Über Jahrzehnte war die Frau im Mittelpunkt des Geschehens. Über „Das andere Geschlecht“ schrieb Simone de Beauvoir ihr Buch, im französischen Originaltitel noch präziser: „Le Deuxième Sexe“ – Das zweite Geschlecht. Aber eben zwei. Nur zwei. Da war viel Platz für Frauenpolitik, heute muss man sich den Platz teilen mit einer Vielfalt neuer Diskriminierungsgruppen, die wie Pilze aus dem Boden schiessen und sich ständig vergrössern.

Das Märchen von der Dekonstriuerbarkeit

Die feministische Bewegung und damit auch die Budgets und Posten sind längst gekapert durch die Lobbyisten der Schwulen-, Lesben- und Transverbände und verschiedener anderer Gruppen. Man arbeitet nicht mehr an der Emanzipation der Frau, sondern an der „Dekonstruktion“ der Weiblichkeit. Wie will auch eine Bewegung die Frau fördern, wenn man das Frausein nicht einmal mehr an klaren oder gar natürlichen Kriterien festmachen will? Was ist überhaupt noch eine Frau, wenn jeder sich Frau nennen darf, der es unbedingt sein will, und Geschlecht heute angeblich selbst definiert werden kann, womit jede „Transfrau“ in die nächste Frauenumkleide gespült wird? Nichts bedroht die Errungenschaften der Emanzipation gerade mehr als das propagierte Märchen, Weiblichkeit sei nur eine dekonstruierbare, soziale Angewohnheit, die sich jeder aneignen könne, der selbst gern Frau wäre. Gender ist nicht die Befreiung der Frau, es ist ihr grösstes Problem.

Wer verliert?

Am meisten verliert die ganz normale Heterofrau in diesem Spiel. Also die Mehrheit der Frauen. Eine Bewegung, die unter dem Gender-Vorzeichen losgelaufen ist, um die Masse der Frauen zu befreien, lässt die gleiche Masse konsequent im Regen stehen und kümmert sich nur noch um Partikularinteressen. Die Mutter, die ihre Kinder noch selbst grosszieht. Die Frau in Teilzeit mit zwei Kindern, die kaum eine Rente bekommen wird. Die Alleinerziehende, die sich mehr schlecht als recht durchs Leben schlägt und in der gleichen Altersarmut landen wird wie ihre verheiratete Geschlechtsgenossin mit vier Kindern. Die grosse Mehrheit der Frauen hat rein gar nichts von all diesem Zirkus, der doch angeblich zur Emanzipation der Frau durch Gender Mainstreaming veranstaltet wird.

Man gibt ihr als Ersatz aber jetzt die Möglichkeit, ihre Eizellen einzufrieren, ihren Bauch als Leihmutter zu vermieten, die Umkleidekabine mit verkleideten Männern zu teilen und zwischen drei verschiedenen Toilettentüren auszuwählen. Wenn das mal keine Errungenschaft ist.

Birgit Kelle, *1975, Mutter von vier Kindern, arbeitet als freie Journalistin und Buchautorin und ist regelmässig Gast in TV-Sendungen. Als Neunjährige siedelte sie mit ihrer Familie aus dem kommunistischen Rumänien nach Deutschland um. In verschiedenen Landtagen und Ausschüssen tritt sie als Sachverständige für die Interessen von Müttern und Familien sowie als Expertin zum Thema Gender auf. 2014 war sie Referentin an der Oltner Tagung „Bindung und Bildung“ von Zukunft CH. Die Broschüre mit ihrem damaligen Vortrag „Der neue Feminismus: Fokus Familie“ kann bei Zukunft CH bestellt werden.

Auszug aus dem Magazin 04/20. Haben Sie Interesse an unserem Magazin und dem Artikel? Hier gelangen Sie direkt zum Bestellformular für das Magazin:
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