Der amtliche Geschlechtswechsel für sogenannte Transkinder ist keine Bagatelle, sondern eine folgenschwere Weichenstellung. Deutsche Experten raten dem Schweizer Parlament zur Beibehaltung einer psychiatrischen Begutachtungspflicht mit genauer Auslotung des Konflikts, der dem Transitionswunsch zugrunde liegt – damit die guten Aussichten Betroffener, sich mit ihrem Geburtsgeschlecht auszusöhnen, gewahrt bleiben.
Von Dominik Lusser
Das Schweizer Parlament steht kurz vor der Verabschiedung einer in vielerlei Hinsicht folgenschweren Änderung des Zivilgesetzbuches. Gemäss einer Gesetzesvorlage des Bundesamts für Justiz (BJ) sollen nicht nur inter-, sondern auch – und hier liegt das weitaus grössere Problem – transsexuelle Personen ihren Geschlechts- und Namenseintrag im Personenstandsregister ohne Vorbedingung ändern können. Eine einfache Erklärung vor dem Zivilstandsbeamten soll genügen, um amtlich vom Mann zur (Trans-)Frau zu werden. Abgeschafft würde nicht nur das bislang erforderliche Gerichtsverfahren. Jede Begründungs- oder ärztliche Begutachtungspflicht soll entfallen, womit im Grunde jedem die Möglichkeit offen stünde, sein Geschlecht auch ohne die entsprechende psychiatrische Diagnose Geschlechtsidentitätsstörung (GIS, nach der internationalen Klassifikation ICD-10) bzw. Geschlechtsdysphorie (GD, nach der amerikanischen Klassifikation DSM-5) zu ändern.
Aus der Perspektive von Psychiatrie und Sexualmedizin muss es als besonders heikel beurteilt werden, dass mit Zustimmung der Eltern schon Minderjährige, die sich im falschen Körper geboren fühlen, vom vereinfachten Geschlechtswechsel „profitieren“ können sollen. Doch von diesen Bedenken in der internationalen Fachwelt scheinen die Parlamentarier bislang nichts mitbekommen zu haben. Der Ständerat hat die Vorlage im Juni 2020 klar angenommen. Der Nationalrat behandelt das Geschäft im September, wobei seine Rechtskommission mit 15 zu 5 Stimmen vorschlägt, sogar die elterliche Zustimmungspflicht zu streichen.
Familiäre Verstrickungen
Es wäre die Aufgabe von Medizinern und Psychogen gewesen, die Politik auf gesundheitliche Risiken hinzuweisen. Doch die bekannten Schweizer Fachleute im Bereich GD bei Minderjährigen scheinen ausnahmslos stark von der Gender-Theorie beeinflusst zu sein, was sich im Bericht des BJ zuhanden des Parlaments widerspiegelt. Darin heisst es, dass alle konsultierten Personen die Revision „unterstützen“. Das Fehlen einer kontroversen Debatte in der Schweiz zeigt sich auch darin, dass von vier für diesen Artikel angefragten Top-Fachleuten der Unikliniken Bern, Basel und Zürich keiner bereit war, zu Argumenten Stellung zu nehmen, die gegen einen frühen amtlichen Geschlechtswechsel sprechen. Erstaunlich ist das allerdings nicht, hat doch die tonangebende Schweizer Expertin Dagmar Pauli – Chefärztin der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Uniklinik Zürich – jede „Behandlung, die eine ‚Aussöhnung mit dem Geburtsgeschlecht‘ zum Ziel hat“, a priori für „obsolet“ erklärt (Psych up2date, 6/2017). Wer im Gefolge von John Money die Geschlechtsidentität für eine vom Leib losgelöste innere Befindlichkeit hält, sieht hingegen offenbar kein Problem darin, ein Kind in der Ablehnung seines gesunden Körpers zu unterstützen.
Aufschlussreich ist auch die Kritik des BJ an der gesetzlichen Regelung in Deutschland: Dort müssen zwei Gutachten den ernsthaften und dauerhaften Wunsch, im Gegengeschlecht zu leben, bestätigen. Dieses Verfahren werde, so das BJ in seinem Bericht, im nördlichen Nachbarland als „in die Intimsphäre eingreifend sowie wenig vereinbar mit der Achtung der Menschenwürde und der zunehmenden Entpathologisierung der Transsexualität“ kritisiert. Das entspricht dem Standpunkt der Grünen, die aktuell im Bundestag für ein „Selbstbestimmungsgesetz“ kämpfen und die davon ausgehen, dass eine Fremd-Begutachtung ohnehin nur wiedergeben könne, „was der Mensch über sich selbst berichtet“ – ein Standpunkt, der in Deutschland allerdings von Fachleuten kritisch hinterfragt wird.
Schon 2016 haben sich führende Experten, darunter der Münchner Kinder- und Jugendpsychiater und Psychotherapeut Alexander Korte sowie der Kieler Sexualmediziner Hartmut Bosinski, in der Zeitschrift für Sexualforschung kritisch mit der Forderung auseinandergesetzt, die Begutachtungspflicht für Vornamens- und Geschlechtsänderungen Minderjähriger abzuschaffen. Die folgenreiche Entscheidung über den richtigen Zeitpunkt der Transition inkl. juristischer Weichenstellungen solle nicht allein den Eltern, oder gar dem Kind überlassen werden, mahnen sie. Letzteres sei unter entwicklungspsychologischen Gesichtspunkten schwer vorstellbar. Ersteres erscheint den Experten wegen der oft vorliegenden, für den Geschlechtsidentitätskonflikt mitursächlichen familiären Verstrickungen und der möglichen Funktionalität, den der Wunsch des Kindes nach Geschlechtsrollenwechsel in vielen Familie habe, nicht minder problematisch. In Betracht zu ziehen seien in diesem Zusammenhang u.a. mögliche Schuldgefühle und Wünsche der Wiedergutmachung als zugrundeliegende Motive der Eltern – ganz zu schweigen davon, dass die vorschnell beantragte Geschlechtsänderung Ausdruck einer Flucht in die „(vermeintliche) Normalität“ sein könne.
Gute Aussichten, allerdings…
Aus den bekannten Therapieverläufen schliessen die Fachleute, dass sich das Umwandlungsbegehren von Kindern und Frühadoleszenten, und sei es von Betroffenen noch so leidenschaftlich-vehement vorgetragen, im Zuge der pubertären Veränderungen „in Luft auflösen“ könne. Dies sei allerdings an die Voraussetzung gebunden, dass dem Kind ein Entwicklungsraum und ausreichend Zeit gewährt werde, sich mit seinem Geburtsgeschlecht auszusöhnen (desistierender Verlauf). Umgekehrt könnten voreilige Weichenstellungen diesen Aussöhnungsprozess negativ beeinflussen und beim Kind die Fortdauer (Persistenz) des Identitätskonflikts bewirken.
Bezogen auf Kinder bis ca. 16 Jahre zeigt sich Professor Bosinski hinsichtlich der Schweizer Neuregelung sehr skeptisch. „Nachweislich entwickeln sich ca. 75 Prozent der betroffenen Kinder postpuberal ohne Fortbestehen der GD,“ erklärt er auf Anfrage. Eine GD im Kindesalter sei ein weitaus stärkerer Prädiktor einer späteren Homosexualität als einer späteren Transsexualität. Bosinski sieht darum in einem amtlichen Geschlechtswechsel ohne Diagnostik und psychotherapeutische Auslotung des zugrundeliegenden Konfliktes zwei Gefahren. „Einerseits kann sie den Weg ebnen für eine hormonelle und/oder chirurgische Umwandlungsbehandlung, die mit zahlreichen Risiken und Nebenwirkungen belastet und insbesondere irreversibel ist.“ Fehlbehandlungen und Rückumwandlungsbegehren mit schwersten persönlichen Krisen bis hin zu Suizidalität seien bei unzureichender Indikationsstellung vorprogrammiert. Anderseits fühlen sich laut Bosinski, auch wenn es nicht zu einer solchen körperverändernden Behandlung kommt, viele Kinder oder junge Jugendliche durch einen solchen geänderten Geschlechtseintrag dazu verpflichtet, in der nun anderen Geschlechtsrolle zu bleiben. Kinder und Jugendliche hätten grösste Schwierigkeiten, sich aus der einmal vollzogenen sozialen Transition zu lösen, auch wenn sie sich – „z.B. in der Pubertät durch positive sexuell-körperliche Erfahrungen, welche durch eine hormonelle Pubertätsblockade verhindert würden!“ – innerlich von ihrem Transitionswunsch gelöst hätten.
Laut dem Sexualmediziner ist eine vorzeitige hormonelle Blockade der Pubertät nichts anderes als eine zeitlich befristete, reversible chemische Kastration, unter der z.B. das Längenwachstum ungebremst weitergehe und deren körperliche Langzeitfolgen nicht völlig geklärt seien. Dem von Dagmar Pauli vorgebrachten Argument, eine frühzeitige Hormonbehandlung bringe für Kinder, bei denen die GD nach der Pubertät fortbestehe, „ein kosmetisch besseres Ergebnis hinsichtlich Anpassung an das Wunschgeschlecht“, stimmt Bosinski zu. Ergänzt aber: „Das Problem ist nur, dass wir präpuberal nicht wissen, ob das jeweilige Kind zur Mehrheit der Desisters oder zur Minderheit der Persisters gehört.“
Transgender-Hype
Von der klassischen GD, die sich schon vor der Pubertät bemerkbar macht, ist ein weiteres Phänomen zu unterscheiden, das die US-Forscherin Lisa Littman 2018 unter dem Begriff „Rapid-Onset Gender Dysphoria“ (ROGD) wissenschaftlich untersucht hat. Demnach berichten immer mehr Eltern, dass ihre jugendlichen Kinder zeitgleich mit Gleichaltrigen ihrer Peergroup oder nach verstärkter Nutzung sozialer Medien beginnen, sich als transgender zu identifizieren, obwohl sie in der Kindheit keine entsprechenden Anzeichen gezeigt haben. Littman schliesst aus ihrer Befragung von Eltern, deren Kinder im Durchschnitt 16,4 Jahre alt waren, dass es sich beim plötzlichen Auftreten einer GD im Jugendalter um ein Phänomen sozialer Ansteckung handelt, für die besonders psychisch vorerkrankte Teenager anfällig zu sein scheinen. Auch Alexander Korte hält „Nachahmungseffekte“ für „durchaus wahrscheinlich“. 2019 berichtete er im Spiegel von vier seiner Patienten, die „alle aus demselben kleinen bayerischen Ort“ stammten, was „jeder statistischen Wahrscheinlichkeit“ widerspreche. Angesichts der gegenwärtig starken Zunahme von Transgender-Jugendlichen, die sich überall in Europa beobachten lässt, ist bei einem amtlichen Geschlechtswechsel also noch mehr Vorsicht geboten. Um das Risiko falscher Weichenstellungen zu minimieren, hält darum Korte, wie er auf Anfrage erklärt, „eine Begutachtungspflicht bis zur Volljährigkeit für angemessen“.
Dieser Text erschien zuerst am 3. September 2020 in der Tagespost unter dem Titel „Wie aus Romana Roman wird“.