Ohne das Konzept des Hirntods wäre die Organspende, welche am 15. Mai 2022 Thema bei der Abstimmung um die Widerspruchslösung ist, in den meisten Fällen gar nicht möglich. Wir kommen nicht darum herum, uns mit der Frage nach dem Menschenbild auseinanderzusetzen, das hinter der Organentnahme bei Hirntotensteht. Das Menschenbild ist nämlich entscheidend für unsere Sichtweise auf den Eingriff beim hirntotenOrganspender. Ein Eingriff, der zwar Leben retten kann, aber beim Organspender zum Tod führt.

Von Ralph Studer

Es gibt genügend Belege, dass bei „Hirntoten“ gerade nicht von Toten gesprochen werden kann. Im Gegenteil. Es sind lebende Menschen. Der „Hirntod“ ist deshalb in keinster Weise mit dem Tod selbst gleichzusetzen, der das irreversible Ende aller vitaler Funktionen im Bereich Herz-Lunge bedeutet. Sobald der Tod nämlich eintritt, folgen unvermeidlich bestimmte biologische Anzeichen, die zeigen, dass eine Person wirklich gestorben ist: Die Temperatur des Leichnams fällt steil ab auf das Niveau der Umgebungstemperatur und die Haut wird grau und leblos durch das schnelle Abfliessen des Blutes von den oberflächennahen Kapillaren in die tiefen Venen. Innert weniger Stunden setzen auch die Totenflecken und die Totenstarre ein. Alles Anzeichen, die bei einem „Hirntoten“ fehlen. „Hirntote“ zeigen u.a. Bewegungen am Operationstisch bei der Organentnahme, Reflexe, warme Haut und vitale Organe wie Leber und Nieren. Die Unterschiede zwischen „Hirntoten“ und Toten sind offenkundig.

Das Menschenbild ist entscheidend

Angesichts dieser klaren Erkenntnisse stellt sich unvermeidlich die Frage, wie Teile der Medizin und der Gesellschaft Organentnahmen bei „Hirntoten“ befürworten können, bei einem lebenden Menschen, der durch die Operation tatsächlich stirbt. An dieser Stelle offenbart sich eine grundsätzlich unterschiedliche Sichtweise auf den Menschen und den Schutz des Menschen als Person, deren Darstellung für ein vertieftes Verständnis der Sichtweise der Gegner und Befürworter auf die Organentnahme bei „Hirntoten“ von entscheidender Bedeutung ist.

Hier stellen sich grundsätzliche Fragen über den Menschen und das Personsein, denen wir nicht ausweichen können. Besteht der Mensch aus Leib und Seele von Anfang an und ist somit von der Empfängnis bis zum Tod – unabhängig von Bewusstsein und Willen – schützenswert? Oder ist der Mensch keine Person mehr und geht er seines rechtlichen Schutzes verlustig, wenn er sein Bewusstsein und seinen Willen verliert, was auf den „Hirntoten“ zutrifft? Rechtfertigt dann der Nutzen für den Dritten diesen Eingriff? Julia Onken, sonst eher für ihre feministischen Einsatz bekannte Buchautorin, formuliert hier durchaus treffend: „Wer davon ausgeht, der Mensch sei lediglich eine Ansammlung von Eiweissmolekülen, die allesamt zu funktionieren hätten, und falls es in der Zentrale Ausfälle geben sollte, der Rest auch nicht mehr als lebender Organismus zu bezeichnen wäre, hat mit dem neuen Organspendegesetz keine Probleme. Wer aber davon ausgeht, dass Menschen nicht ausschliesslich eine rein materiell-fleischliche Angelegenheit, sondern gleichermassen auch von geistiger und seelischer Substanz durchdrungen ist, gerät in einen schwerwiegenden inneren Konflikt und wird sich stets dafür einsetzen, dass der Sterbeprozess nicht durch äussere Zwangsmassnahmen gestört oder sogar vorzeitig abgebrochen werden darf.“

Organspende und Abtreibung haben Parallelen

Onken weist zurecht auf die unterschiedlichen Menschenbilder hin, die bei der Organspende aufeinanderprallen. Die Sicht auf den Menschen und seine Würde zeigt auch eine interessante Parallele zwischen Abtreibung und Organspende, zwischen dem Anfang des Lebens und dem Eingriff in das Leben des „Hirntoten“ gegen Ende seines Lebens. Eine Überlegung, die bis anhin kaum diskutiert wurde: Während nach ethischer und christlicher Tradition und Sichtweise die Seele bereits ab dem Zeitpunkt der Zeugung immanent ist und dem Menschen damit die Menschenwürde, das Personsein und der rechtliche Schutz zustehen, geht die atheistische und materialistische Weltsicht davon aus, dass der Mensch nur nach und nach zum Menschen wird, und zwar in dem Mass, in dem der Geist aus seinem Körper hervortritt. Folgt man dieser materialistischen Sichtweise, ist der Mensch zu Beginn seines Lebens nicht schützenswert und darf abgetrieben werden bzw. – zu Ende gedacht – verliert der „Hirntote“ das Personsein und seinen rechtlichen Schutz, da es ihm an eigenem Bewusstsein, Autonomie und Willen fehlt.

Widerspruch zur Menschenwürde und unserer Kultur

Die materialistisch-atheistische Sichtweise hat zur Folge, dass das menschliche Leben relativiert und die Würde des Menschen, die jedem Menschen unabhängig von seinem Gesundheitszustand und Beeinträchtigungen zusteht, ausser Kraft gesetzt wird. Denken wir weiter: Wo ist dann die Grenze, wenn „Hirntote“ nicht mehr den Rechtsschutz geniessen? Wenn durch die Widerspruchslösung gegen den Willen des Spenders Organentnahmen durchgeführt werden und Nützlichkeitserwägungen dominieren? Bereits Johannes Paul II. bemerkte: „Der Tod ist ein einmaliges Ereignis, das in der Auflösung jenes einheitlichen und integrierten Ganzen, das das personale Selbst ist, bildet.“ Die Eigenart des Menschen liegt gerade darin, eine Einheit aus Körper und Seele zu sein. Eine Tatsache, die in unserer christlich-abendländischen Kultur verankert ist. Gerade darin kommt ihm die Würde zu. Von einer Auflösung kann bei einem „Hirntoten“, der weiterhin viele integrative vegetative Funktionen (einschliesslich Kreislauf, Erhalt der Körpertemperatur, Ausscheidung usw.) zeigt, jedoch keine Rede sein.

Der Zweck heiligt nicht die Mittel. Was technisch möglich ist, ist nicht per se moralisch gut und erlaubt. Auch Benedikt XVI. äusserte sich hierzu im Jahr 2008 klar und unmissverständlich, dass „einzelne Organe nicht entnommen werden dürfen, ausser ex cadavere [aus einem Leichnam] und das Hauptkriterium des Respekts für das Leben des Spenders immer überwiegen muss, sodass die Organentnahme nur im Fall seines/ihres wirklichen Todes erfolgen darf.“ Daraus lässt sich unumstösslich ableiten: Auch der „hirntote“ Spender verdient bis zu seinem Tod den unbedingten Rechtsschutz. Dieses hohe Gut der Menschenwürde, deren umfassender Schutz eine wesentliche Lehre und Konsequenz aus totalitären Gewaltherrschaften wie dem Nationalsozialismus und Kommunismus ist, gilt es auch bei der Organspende zu verteidigen und die Würde und das Leben des „Hirntoten“ anzuerkennen.

 

Literaturhinweise:

  • Dr. Nguyen D./Dr. Eble J., Hirntod, in: Medizin & Ideologie, Ausgabe 02/21
  • Puppinck Grégor, Der denaturierte Mensch und seine Rechte, 2020 (dt. Übersetzung)
  • Onken J., Wo bleibt die seelische Substanz?, in Weltwoche Nr. 17.22.