Die Technokraten von heute erstreben den neuen Menschen, der sich mittels Künstlicher Intelligenz selbst revolutioniert und zunehmend vervollkommnet. Dafür stehen die Philosophien des Transhumanismus und des ihm verwandten Longtermismus. Aber die Suche nach dem neuen Menschen, der sich selbst immer weiter perfektioniert, ist schon viel älter. Eine ihrer Wurzeln findet sich bei dem Königsberger Aufklärungsphilosophen Immanuel Kant, dessen 300. Geburtstag am 22. April 2024 weltweit gedacht wird.
Von Werner Thiede
Vom „neuen Menschen“ weiss auch der christliche Glaube von jeher. Aber mit dem Beginn der Neuzeit hat sich dieser Gedanke verselbständigt – er wurde sozusagen säkularisiert. Wie christlich Kant eingestellt war, darüber streiten die Experten. In seiner Religionsphilosophie, die 1793 unter dem Titel „Die Religion innerhalb der Grenzen der blossen Vernunft“ erschienen ist, hat der fast 70-Jährige jedenfalls den umstrittenen Versuch unternommen, die Offenbarungsreligion des Christentums konstruktiv ins Konzept einer „natürlichen Religion“ zu übertragen.
Anders ausgedrückt: Er hat die ihm geläufige geschichtliche Weltreligion in den Rahmen einer ungeschichtlich-abstrakten „Religion“ gepresst. Das tat er freilich in dem Bewusstsein, dass es diese im Zeitalter der Aufklärung angenommene Vernunftreligion so nirgends in reiner Gestalt gibt, weshalb sie immer von konkreten Ausgestaltungen her anvisiert werden muss. Immerhin hat er das Christentum für die ihr entsprechendste Religion gehalten und geschätzt.
Kant und Spener
Freilich fragt sich, was bei seinem Übertragungsversuch an authentischem Gehalt christlicher Überzeugung erhalten geblieben, was verzerrt und was verloren gegangen ist. Dem lässt sich exemplarisch anhand des neutestamentlichen Begriffs „Wiedergeburt“ nachgehen. Kant hat diesen Begriff von Kindheit an gekannt, denn er war pietistisch erzogen worden. Schon in der altprotestantischen Orthodoxie hatte dieser geistliche Begriff im Zusammenhang der Beschreibung des Rechtfertigungsgeschehens im Glauben eine zentrale Rolle gespielt. Aber erst über den Vater des Pietismus, Philipp Jakob Spener, war die betonte Rede von der „Wiedergeburt“ über seine Eltern und Förderer an den jungen Kant gekommen. Dass er ihn im Alter zur religionsphilosophischen Charakterisierung des Neuwerdens des inneren Menschen aufgegriffen hat, beweist jedenfalls, dass er ihn für geeignet gefunden hat, sein Anliegen zum Ausdruck zu bringen.
Spener hatte betont, ein wiedergeborener Christ sei von Gott als dessen Kind angenommen – wobei zwar nicht die Seele als solche verändert würde, wohl aber etwas Neues in ihr erschaffen worden sei. Dieses Neue sei das den Willen für Gott frei machende Geschenk des Glaubens, und zwar mit Bezug auf die Erkenntnis der Gnade, die durch Jesus Christus und den Empfang seines Geistes zuteil werde. Die Verderbnis der menschlichen Vernunft und des Willens durch den Sündenfall sei damit anfänglich, also noch keineswegs vollkommen überwunden: Wie bei der natürlichen Geburt komme nicht sofort ein in jeder Hinsicht fertiger Mensch heraus. Das Wesen des Christentums besteht laut Spener geradezu im mystisch verstandenen Wachsen des neuen Menschen und entsprechend dazu im Absterben des alten. Die „neue Kreatur“ des Wiedergeborenen sei nicht unmittelbar wahrnehmbar, aber doch nachprüfbar – und zwar anhand der Glaubensfrüchte.
Wiedergeburt als Revolution
Kants philosophische Rede von „Wiedergeburt“ klingt erstaunlich fromm: Ähnlich wie die christliche Erbsündenlehre spricht der Königsberger Weise vom „radikalen Bösen“, das die Willensausrichtung durch die ganze menschliche Gattung hindurch bestimme. Notwendig sei umso mehr die „Heiligkeit der Maximen“, also eine „Art von Wiedergeburt“ – nämlich „durch eine Revolution in der Gesinnung im Menschen“.
Gleichwohl steckt hinter dieser Ausdrucksweise ein ganz anderes Deutungsschema als in der christlichen Religion. Beim biblischen Begriff von Wiedergeburt geht es um das Hereinbrechen der Herrschaft Gottes durch seinen Geist, durch die erkannte, radikale göttliche Liebe, die das Verhältnis der Entfremdung von Gott ablöst. Bei Kant hingegen dreht sich alles um ein selbstmächtiges Geschehen im menschlichen Geist, nämlich um die im Zeichen der Aufklärung für möglich gehaltene Selbstfindung des Menschen kraft seiner eigenen Vernunft.
Von daher geht der Philosoph das Thema der Wiedergeburt bereits mit der Vorbemerkung an: „Was der Mensch im moralischen Sinne ist oder werden soll, gut oder böse, dazu muss er sich selbst machen oder gemacht haben.“ Kein Zweifel, hier begegnet im schärfsten Kontrast zur christlichen Gnadenlehre – wenngleich unter deren Begrifflichkeit – eine Vorstellung von „Selbsterlösung“. Karl Vorländer betont in seinem Buch über Kants Person und Werk: „In geradem Gegensatz zu Luthers bekannten Katechismussatz lehrt unser Denker, dass der Mensch aus eigener Vernunft und Kraft dem Schlechten entgegenwirken und zum Guten gelangen kann, dass die ‚völlige Revolution der Denkungsart’ durch ihn selbst erfolgen muss…“
Der Wille und die Vernunft
Wie aber soll das unter den von Kant selbst genannten Voraussetzungen der Herrschaft des „radikalen Bösen“ im Menschen möglich sein? Das Böse beeinflusst laut Kant nur den Willen und keineswegs die praktische Vernunft selbst. Zu deren vernünftigen Forderungen gehört für ihn nicht nur Gottes Existenz, sondern konsequenterweise auch die notwendige Bereinigung des negativ beeinflussten Verhältnisses zu ihm. Dabei muss das autonome Neuwerden „durch eine Revolution in der Gesinnung im Menschen“ bewirkt werden, deren Subjekt der menschliche Wille selbst ist. Dass er die Freiheit dazu habe, sei freilich nicht aufweisbar, sondern nur philosophisch anzunehmen – als eine Forderung innerhalb der Grenzen der blossen Vernunft. Denn da der Mensch zu solcher Heiligkeit laut göttlichem Gebot kommen solle, müsse er es auch können. Dieser Rückschluss ist allerdings nicht unbedingt einleuchtend.
Theologische Vernunft weiss es anders: Das Gesetz des „Du sollst“ kann gerade gegeben sein, um den Menschen am Ende sein Nichtkönnen und so das Angewiesensein auf die Gnade Gottes zu lehren. Das jedenfalls war die reformatorische Erkenntnis Martin Luthers. Schon die neutestamentliche Rede von der Wiedergeburt des Menschen drückt in diesem Sinne die Passivität des Subjekts gegenüber dem göttlichen Geist aus: Nicht um autonomes „Machen“ geht es, sondern um theonomes Neuwerden als lebendige Geschenkerfahrung.
Willensfreiheit unter dem „radikalen Bösen“?
Kants Aufgreifen des Begriffs „Wiedergeburt“ mutet insofern unglücklich an – eben als gekünstelte Umdeutung. Schon seine Interpretation im Sinne von „Revolution“ legt alles Gewicht auf das aktive Selbsttun des Menschen. Wiedergeburt „durch eigene Kraftanwendung“ – dieses Verständnis Kants sprengt das Bildwort, liest es gegen seinen Sinn. Auch wenn bei einer Geburt der Säugling sich nicht vollkommen passiv verhält, zielt doch Kants Interesse keineswegs auf diesen Aspekt einer schwachen, unbewussten Beteiligung des zu Gebärenden. Sein Autonomiekonzept stellt sich quer zum Symbol der Wiedergeburt. Er dürfte es aber nicht nur wegen seiner eigenen frühen Vertrautheit damit und wegen dem kulturellen Bekanntheitsgrad aufgegriffen haben, sondern auch deshalb, weil seine rationalen Analysen ihm durchaus sagten, dass völlige Autonomie ohne jeglichen Gnadenaspekt doch schwerlich denkbar sei.
Die „Anlage zum Guten in uns“
So war ihm klar, dass die vernünftig postulierte „Revolution“ im Setzen der obersten Willensziele schon aus Erfahrungsgründen nicht einleuchtet. Das angeblich aus eigener Vernunft und Kraft zu Vollbringende formt eben nicht den unwandelbar „neuen Menschen“! Hier nimmt Kant nun Zuflucht zur Unbegreiflichkeit des Göttlichen: Für den Blick des Ewigen, der den Grund des Herzens durchschaut, müsse allmählicher Fortschritt zum relativ Besseren innerhalb der Zeit durchaus als „Revolution“ gelten können. Gestartet sei deshalb durchaus die Hoffnung, dass der Mensch dank der „Reinigkeit des Prinzips, welches er sich zur obersten Maxime seiner Willkür genommen hat, und der Festigkeit desselben, sich auf dem guten (obwohl schmalen) Wege eines beständigen Fortschreitens vom Schlechten zum Besseren befinde“ – wobei blosses Hoffen in sich von Ungewissheit gefärbt bleibt!
Sicher ist sich Kant aber der autonomen Leistungsfähigkeit. Er beruft sich diesbezüglich auf die ursprüngliche „Anlage zum Guten in uns“: Um deren „Wiederherstellung“ geht es demnach bei der Wiedergeburt. Wie aber soll das Subjekt, noch ohne zunächst wiedergeboren zu sein, also unter der Herrschaft des radikalen Bösen zu einer solchen Wiederherstellung überhaupt fähig sein? Handelt es sich doch bei der Umkehr zum Guten keineswegs um die Selbstbestimmung eines moralisch neutralen Willens! Kant entgeht an dieser entscheidenden Stelle, wie seine versuchte Problemlösung am Ende erkennbar misslingt.
Wiedergeburt als Neuwerden vor Gott
Damit aber steht das gesamte moralische Konzept seiner Religionsphilosophie eigentlich auf tönernen Füssen. Hätte er der Ahnung der von ihm analysierten Vernunft mehr Raum gegeben, dass nämlich Gnade im Vollsinn des Begriffs unerlässlich und das zu erstrebende Neuwerden des Menschen vor Gott tatsächlich reine Gnade sei, dann wäre er dem Begriff der Wiedergeburt eher gerecht geworden. Der ist eben keine Angelegenheit einer „natürlichen Religion“, sondern lebendiger Offenbarungsreligion. Und er führt zu einer Aufklärung, die ihrerseits eine Kritik der sich für aufgeklärt haltenden „autonomen Vernunft“ bedeutet.
Insofern hätte Kant vom biblischen Begriff der Wiedergeburt besser die Finger gelassen. Dass er es nicht getan hat, zeugt exemplarisch von der tiefen Problematik seiner Religionsphilosophie im Verhältnis zur Religion des Christentums. Theologisch ist diese Problematik auch drei Jahrhunderte nach Kants Geburt noch nicht wirklich aufgearbeitet. Sie spiegelt sich in der seit zwei Jahrhunderten anhaltenden Spannung von liberaler und konservativer Theologie. Und sie wirkt dementsprechend in den Kirchen, aber auch in der Gesellschaft weiter nach – beispielsweise in der eingangs erwähnten Vorstellung des Transhumanismus von einem sich mit Hilfe digitaler Technik selbst revolutionierenden, neuen Menschen.
Literaturtipps zur Vertiefung:
W. Thiede (Hg.): Glauben aus eigener Vernunft? Kants Religionsphilosophie und die Theologie, Göttingen 2004 (https://www.werner-thiede.de/buecher/glauben-aus-eigener-vernunft/; antiquarisch erhältlich)
W. Thiede: Die digitalisierte Freiheit. Morgenröte einer technokratischen Ersatzreligion, 2. Aufl. Berlin 2014 (https://www.werner-thiede.de/buecher/die-digitalisierte-freiheit/)