Der säkulare freiheitliche Rechtsstaat lebt bekanntlich von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Das Wachsen islamischer Parallelgesellschaften und die Existenz von Scharia-Zonen in europäischen Städten zwingen auch unverbesserliche Säkularisten zu einer theologischen Standortbestimmung.
Von Dominik Lusser
Der Islam ist die häufigste Staatsreligion. Zu diesem Ergebnis kommt eine im Oktober 2017 veröffentlichte Analyse des Washingtoner Forschungsinstituts Pew Research Center, das Daten aus 199 Ländern ausgewertet hat. Das Ergebnis: Von den 43 Ländern, die in Verfassung oder Grundgesetz eine Staatsreligion festgeschrieben haben, sind 27 islamisch und 13 christlich. Die Konsequenzen, die sich daraus für die Freiheiten der Bürger ergeben, sind jedoch – je nach der Religion, mit welcher der Staat ein enges Verhältnis pflegt – sehr unterschiedlich. Dies wird täglich durch Medienberichten aus aller Welt bestätigt.
Während der Islam von sich aus nicht zwischen Religion und Politik unterscheidet, was regelmässig zu Benachteiligungen oder gar Verfolgungen Andersgläubiger oder Abtrünniger führt, gehört diese Unterscheidung quasi zur DNA des Christentums. Im Evangelium wird Jesus mit den Worten zitiert: „Gebt dem Kaiser, was dem Kaiser gehört; Gott aber, was Gott gehört.“ Auch hat Jesus vor dem römischen Statthalter Pontius Pilatus bekannt, dass sein Reich nicht von dieser Welt ist.
Theologisch gegründete Weltlichkeit
Mit seiner theologischen Differenzierung zwischen Natur und Gnade, zwischen Schöpfungs- und Heilsordnung – welche dem Islam fremd ist – duldet das Christentum den säkularen Bereich nicht nur, sondern begründet diesen nachhaltig. Der Kulturphilosoph Josef Pieper beantwortete 1957 die Frage nach dem Wesen des christlichen Abendlandes mit der markanten Formulierung der „theologisch gegründeten Weltlichkeit“. Das Unterscheidende des abendländischen Geistes sei nicht auf irgendeine Theologie, sondern auf die christliche Theologie gegründete Weltlichkeit.
Zwar hat sich das christlich geprägte Europa in seiner Geschichte bisweilen von diesem Grundsatz entfernt bzw. diesen nur zögerlich in Gesetze und Bürgerrechte umgesetzt. Die prinzipielle Trennung von geistlicher und weltlicher Macht als Kennzeichen der europäischen Moderne ist aber ohne das christliche Erbe nicht vorstellbar. Vielmehr reichen die Wurzeln dieser Unterscheidung bis ins christliche Mittelalter zurück, was jüngst ein Gruppe renommierter Philosophen in der „Pariser Erklärung“ in Erinnerung gerufen hat.
„Das wahre Europa ist geprägt durch das Christentum“, schreiben die mittlerweile 13 Unterzeichner. Sie verweisen darauf, dass das christliche Evangelium – im Gegensatz zu den Quellen des Islam (Koran und Sunna) – „kein umfassendes göttliches Gesetz“ liefert, weswegen die Autonomie dessen, was wir heute die Zivilgesellschaft nennen, zu einem charakteristischen Merkmal des europäischen Lebens werden konnte.
Meilensteine der Entwicklung hin zum modernen Europa setzte aber auch die Kirche selbst. Wie Martin Rhonheimer, Professor für politische Philosophie, Anfang Jahr in der NZZ ausführte, beruht die europäische Rechtstradition unmittelbar auf kirchlicher Kulturschöpfung: Der Kieler Rechtshistoriker Hans Hattenhauer sieht die mittelalterliche Kirche als „Lehrmeisterin des weltlichen Rechts“. Und ferner sei es – wie Rhonheimer bemerkt – unter Historikern unbestritten, dass die sogenannt päpstliche Revolution des Hochmittelalters die Grundlagen die für die moderne Rechts- und Staatsentwicklung legte: „Sie entsakralisierte König- und Kaisertum und erneuerte damit den Dualismus von weltlicher und geistlicher Gewalt.“
Islam unterwandert Rechtsstaat
Dass sich umgekehrt auf dem islamischen Glauben keine säkulare Gesellschaft aufbauen lässt, wird auch in Europa immer deutlicher, was aber nur Islam-Unkundige erstaunen kann. Denn die Rede vom „politischen Islam“ ist tautologisch. Wo Muslime an der Zahl zunehmen, bilden sich nicht selten Parallelgesellschaften, in denen alle Lebensbereiche nach religiösen Regeln funktionieren. Weil es aussichtslos sei, die 30 Prozent Radikalen unter den Muslimen Frankreichs zu den Werten der Demokratie zu bekehren, schlug der Romancier und Lehrer Christian de Moliner unlängst die Teilung seines Landes vor. Nur so könne die zunehmende Polarisierung Frankreichs entschärft und ein Bürgerkrieg vermieden werden. Im Süden des Landes soll laut de Moliner ein doppeltes Rechtssystem eingeführt werden: Die Muslime sollten nach der Scharia leben, Streitigkeiten zwischen Muslimen und Christen hingegen weiterhin nach dem ordentlichen Recht beigelegt werden. De Moliners Vorschlag kommt zwar einer Kapitulation des Rechtsstaats vor dem „politischen Islam“ gleich – doch immerhin bringt er den unüberbrückbaren Gegensatz zwischen dem orthodoxen Islam und den Werten zum Ausdruck, die unserer politischen und gesellschaftlichen Ordnung zugrunde liegen.
Doch die europäischen Eliten scheinen weiterhin blind zu sein für die wesentlichen Unterschiede zwischen dem Islam und dem Christentum. Noch immer geben sie sich der Illusion hin, der Islam sei eine weitere Ausprägung der Art Religion, wie sie das Christentum verkörpert. Als unverbesserliche Säkularisten hängen sie dem Irrglauben an, die Aufklärung sei voraussetzungslos, quasi vom Himmel gefallen. Damit aber unterschlagen sie die christlichen Ursprünge unserer liberalen Ordnung.
Theologische Selbsterkenntnis
Die Schirmherren des „falschen Europas“, das die Verfasser der „Pariser Erklärung“ besonders in der Europäischen Union verkörpert sehen, seien unfähig, die Fehler jener post-nationalen und post-kulturellen Welt zu erkennen, die sie selber konstruierten. „Mehr noch: Sie sind ignorant gegenüber den wahren Quellen der menschlichen Würde, die sie angeblich so hochschätzen. Sie ignorieren die christlichen Wurzeln Europas, lehnen diese sogar ab.“ Gleichzeitig würden diese Eliten grosse Mühen darauf verwenden, „keine Muslime zu beleidigen, von denen sie annehmen, dass sie begeistert ihren säkularen, multikulturellen Standpunkt teilen werden.“ Versunken in Vorurteilen, Aberglauben und Ignoranz, geblendet von eitlen, selbstbeweihräuchernden Visionen einer utopischen Zukunft, unterdrückten sie reflexartig jede abweichende Meinung – „natürlich im Namen von Freiheit und Toleranz“.
Als erster Schritt einer Erneuerung Europas schlagen die konservativen Intellektuellen aus zehn europäischen Ländern eine „theologische Selbsterkenntnis“ vor: „Die universalistischen und universalisierenden Anmassungen des falschen Europa offenbaren sich als eine Ersatzreligion – inklusive Glaubensbekenntnis und Kirchenbann.“ Es sei darauf zu dringen, dass religiöse Bestrebungen in der Sphäre der Religion zu bleiben und nichts in der Politik zu suchen hätten.
Vom Gelingen dieser theologischen Standortbestimmung wird es auch abhängen, ob Europa die richtigen Antworten auf die islamische Bedrohung finden wird. Bleibt nur zu hoffen, dass die Rückbesinnung auf die „theologisch gegründete Weltlichkeit“ einsetzt, ehe es zu spät ist.