Am 30. Juni wird vor der grossen Kammer des Menschenrechtsgerichtshofs in Strassburg die von der italienischen Regierung angestrebte Berufung gegen den Entscheid vom 3. November 2009 diskutiert, wonach Italien verpflichtet worden war, Kruzifixe aus den Schulzimmern zu entfernen – dies als Folge eines Urteils unter Berufung auf das Laizitätsprinzips des Staates durch Soile Lautsi Albertin, einer italienischen Bürgerin finnischer Abstammung. Um das Urteil aufzuheben, muss die Berufung zuerst entgegengenommen werden.
Im Zusammenhang mit der Berufung, welche von der italienischen Regierung angestrebt und durch das Aussenministerium vorgebracht wird, fand am 29. April eine Debatte über den Inhalt der Entscheidung beim Europarat in Strassburg statt.
An dieser Session, die von einer der Parteien verlangt worden war, haben diplomatische Delegationen zahlreicher Mitgliedsstaaten des Europarats, Magistraten des Menschenrechtsgerichtshofs, juristische Berater und Experten aus den verschiedenen betroffenen Ländern teilgenommen. Die italienische Delegation wurde vertreten durch Professor Roberto de Mattei, Vizepräsident des nationalen Forschungsrates und Direktor der Lepanto-Stiftung. In der sehr delikaten Frage der Berufung der italienischen Regierung geht es um das Recht der Freiheit par excellence jedes Menschen, das heisst die Freiheit der Religion und ihrer Ausübung im öffentlichen Raum. Die Entscheidung des Gerichts von Strassburg ist ein klassisches Beispiel laizistischer Struktur, die bestrebt ist, die Religionsfreiheit, besonders die christliche, nahezu auf ein Ghetto einzugrenzen. In diesem Sinne verletze die Darstellung jeglicher religiöser Symbole die freie Wahl der Eltern über die Art, ihre Kinder zu erziehen, sowie das Recht der Minderjährigen, zu glauben oder nicht zu glauben und sie verstosse auch gegen den „Pluralismus in der Erziehung“.
Der Entscheid missversteht jedoch die Rolle der Religion, besonders der christlichen Religion, in der Bildung der zivilen Gesellschaft und des öffentlichen Rechts; sie begünstigt eine religiöse Indifferenz, welcher der Geschichte, der Kultur und dem Recht des italienischen und anderer europäischer Völker entgegengesetzt ist: Eine aggressiv-laizistische Meinungsäusserung, die der Religionsfreiheit feindlich gesinnt ist, kommt in der Entscheidung Lautsi zum Ausdruck und generell in den Verfügungen gewisser italienischer Richter, nachdem diese durch übergeordnete juristische Autoritäten für ungültig bzw. annulliert erklärt worden waren.
Wie die vorangegangenen Entscheidungen zeigen, die vom italienischen Staatsrat getroffen worden waren, repräsentiert das Kruzifix ein identitätsstiftendes Element, das auf den Werten und ethischen Prinzipien basiert, welche die fundamentale Charta des Landes bilden – und zwar in einer Gesellschaft, die sich nicht von der anerkannten christlichen Tradition abwenden kann, welche sogar in der Verfassung verankert ist. Daher ist der Entscheid von Strassburg nicht zwingendes Recht, wie der Gerichtshof annimmt. Während der Arbeitssession im Europarat haben sich die Kläger zu den Ermittlungen des Gerichtshofs auf drei fundamentale Themen juristischer, philosophischer und konstitutioneller Natur konzentriert, welche die Grundlage dieser „unlogischen“ Entscheidung sind: die Prinzipien der Neutralität des Staates, der aktiven und negativen Laizität und der Subsidiarität. Der Jurist und Philosoph Joseph Weiler, Direktor des Jean Monnet-Zentrums, hat auf die grosse Gefahr eines Neutralitätskonzepts des Staates auf der juristischen Ebene hingewiesen, wie sie von den Richtern des Strassburger Gerichtshofs gutgeheissen wurde: Der Staat, der die Manifestationen der Gedankenfreiheit der Bürger schützen und garantieren muss, könne sich nicht davor drücken, den religiösen Faktor – als konstitutive Säule des gemeinschaftlichen Lebens der Personen – innerhalb der öffentlichen Sphäre der zivilen Gesellschaft zu berücksichtigen. Die soziale – öffentliche – Dimension des religiösen Glaubens einer Gesellschaft zu ignorieren, bedeute, eine der Wahrnehmungen der kulturellen Identität zu diskriminieren, welche die Werte der verfassungsmässigen Charta repräsentieren. Es liege an jedem Staat, so Weiler, die Art und Formen des religiösen Pluralismus und der Toleranz mit gegenseitigem Respekt sicherzustellen.
Der Gerichtshof hat dagegen eine Stellung eingenommen, die man als obsolet und auf konstitutionellem Niveau als rückständig bezeichnen muss. Sie ist von der so genannten „negativen Laizität“ inspiriert, eine Bezeichnung aus der französischen Gesetzgebung des 19. Jahrhunderts – typisch für die Zeit der Aufklärung. Sie will die Indifferenz des Staates auf religiöse Fragen ausdehnen. Dies hat zur Folge, dass man Hindernisse in den Weg legt, diskriminiert und den Schutz versagt gegenüber der religiösen Ausdrucksfreiheit der meisten Bürger im öffentlichen Umfeld. Der emeritierte Präsident des konstitutionellen Gerichtshofs Mirabelli, der am Workshop teilgenommen hat, bemerkte, dass die italienische Verfassung das Konzept der Laizität nirgends erwähne. Der Richter des Gerichtshofs von Strassburg, Professor Javier Borrego Borrego, hat als Vertreter von Spanien darauf hingewiesen, dass der Entscheid Lautsis einer „virtuellen“ juristischen Welt entspringe, die der kulturellen, historischen, sozialen und lokalen Welt gegenüberstehe, welcher der Tradition der Werte der europäischen politischen Erfahrung entspreche.
Man muss an dieser Stelle darauf verweisen, dass das religiöse Phänomen und insbesondere die christliche Vergangenheit des Westens eine fundamentale und wesentliche Voraussetzung auch für die politisch-normative Ebene sind, trotz Ablehnung und Negierung. (L.G.)
Quelle: Corréspondance européenne 218/01
Übersetzung: Zukunft CH