„Mit dem Alter kommt der Psalter“, lautet das eingängige Sprichwort. Junge Menschen interessieren sich nicht für den Glauben, für den christlichen Glauben erst recht nicht, meinen viele. Zukunft CH besuchte vier junge Christen, von denen jede und jeder einer anderen Glaubensgemeinschaft angehört. Wie junge Christen heutzutage ticken, woran sie glauben und weshalb sie überhaupt glauben, davon handelt diese Reihe von persönlichen Porträts.
Von Benjamin Zürcher
„Durch die Bewegung wurde ich feministisch“
Ich sitze auf einem weissen Sessel, neben mir ein Kamin, in welchem das Feuer ruhig vor sich hin lodert und den Raum mit Wärme versorgt. Mit mir sitzt eine Gruppe von etwa 15 Personen in diesem Wohnzimmer eines Bauernhauses in der Grenzregion zwischen den Kantonen Thurgau und St. Gallen. Ein paar Meter vor mir hört eine junge Frau mit kurzen, braunen Haaren der Leiterin aufmerksam und interessiert zu. Ihr Name ist Aline, sie gehört der Glaubensgemeinschaft der Adventisten an, eine freikirchliche religiöse Gruppe mit weltweit 21,7 Millionen Mitgliedern. Die Ursprünge der Adventisten sind auf das Jahr 1863 zurückzuführen, gegründet wurde die Gemeinschaft in den USA. Wichtige adventistische Merkmale sind das Feiern des Samstags statt des Sonntags wie in anderen Konfessionen und das intensive Studium der Bibel.
Ihre Glaubensgemeinschaft versteht sich als eine sozialliberale Bewegung innerhalb der Adventisten. Alines Gemeinschaft hat ausserdem eine Eigenschaft, welche sie von anderen adventistischen Kirchen abgrenzt: Sie legen grossen Wert auf die Prophetie und glauben, dass sich aktuelle Zeitgeschehnisse mit der Bibel erklären lassen. Die Versammlung, zu der mich Aline eingeladen hat, beginnt mit einem stillen Gebet. Geführt wird die Zusammenkunft von einer Frau in der Mitte, welche mit Hilfe eines Whiteboards durch die Versammlung führt. Die Frauen und Männer haben Bücher, Schreibblöcke und digitale Geräte dabei. Auch per Internet sind ein paar Mitglieder der Gruppe zugeschaltet.
„Als Adventisten sind wir sozialliberal und moralisch konservativ“, lässt die Leiterin verlauten. Unter moralisch konservativ versteht die Gruppe z.B. das Einhalten des Ruhetags und einen gesunden Lebensstil. Den sozialliberalen Aspekt erklärt man mir mit den Menschenrechten: Die Gruppe leitet die Menschenrechte von der Bibel ab und sei daher für Feminismus, Gleichberechtigung und stellt sich gegen Homophobie und Rassismus. Ihrer Lehre nach schaffte Gott eine Welt, welche genauso war, bis sich die Menschen versündigten. Zur Versündigung des Menschen zählen drei grosse Übertretungen, welche bis zum heutigen Tag einen immensen Einfluss auf die Welt hätten: 1. Der Sündenfall von Adam und Eva brachte den Sexismus in die Welt; 2. Kains Brudermord verzerrte die Anbetung Gottes; 3. Die Verfluchung Kanaans, Hams Sohn und Noahs Enkel brachte Rassismus und Sklaverei auf die Erde.
Diese drei grossen Verfehlungen sollen nach Ansicht der Gruppe aufgehoben werden, bevor Jesus Christus wiederkommt, um seine Gemeinde zu holen. Dieses Prinzip nennen die Adventisten „Eden zu Eden“, also zurück zum Anfangszustand. Mit ihrer Art in der Bibel zu lesen, versucht die Gruppe, Muster und Regeln in der Heiligen Schrift zu erkennen. Die Diskussion der Gemeinschaft dreht sich vor allem über Politik, so z.B. über die politische Lage in den USA und den Krieg in der Ukraine. Auch dafür gäbe es eine biblische Begründung.
Einige Tage später besuche ich Aline nochmals, allerdings nicht in einer Versammlung, sondern privat zu hause. Sie wohnt in einem Wohngebiet in einem grösseren Dorf im Kanton Thurgau. Aline empfängt mich freundlich, zeigt mir zuerst ihre kleine Wohnung, dann setzen wir uns zum Gespräch. Sie wuchs adventistisch auf, sagt sie mir. Schon ihre Grosseltern sind Adventisten, der konservative Glaube kam früh in ihr Leben. „Ich war schon immer sehr gläubig und gottvertrauend“, sagt sie mir. 2019 dann der Bruch: Sie schloss sich der sozialliberalen adventistischen Bewegung an, zu der sie heute dazugehört. Das macht sich auch äusserlich bemerkbar: Kurze statt lange Haare, Hose statt Rock. „Unsere Botschaft spricht von Gleichberechtigung“, erzählt mir Aline über ihre Bewegung.
Sie berichtet mir weiter von ihrem persönlichen Wandel: „Durch die Bewegung wurde ich feministisch“. Zu ihrem persönlichen Glaubensleben gehören digitale Vorträge ebenso dazu wie die Treffen mit den Glaubensgeschwistern und die Information über das aktuelle Weltgeschehen. Ihr Fazit daraus: „Mit dem Wissen aus der Prophetie wissen wir: Es wird nicht besser, sondern schlechter“. Die Naturkatastrophen und die Abnahme der Menschenrechte weltweit beängstigen sie. Die baldige Wiederkunft Jesu, die sie erwartet, schenkt ihr aber auch Mut.
„Die Kirche schenkt mir Glauben, Hoffnung und Liebe“
Es ist bereits dunkel, ich fahre in einem Bus bis zur Haltestelle neben einer Kirche. Nachdem ich ausgestiegen bin, sehe ich ein paar Meter vor mir die junge Frau, mit der ich diesen Treffpunkt im sankt-gallischen Wil ausgemacht habe. Sie heisst Theresia, hat lange blonde Haare und begrüsst mich mit einem breiten Lächeln auf den Lippen. Theresia gehört – wie ihre gesamte Familie – zur Priesterbruderschaft St. Pius X. Diese Vereinigung ist eine sehr stark konservative Bewegung innerhalb der katholischen Kirche, die auf den ehemaligen Erzbischof Marcel Lefebvre zurückzuführen ist.
Bevor wir gemeinsam die Heilige Messe in der Kirche besuchen, sprechen wir in einem Vorraum miteinander. Theresia beschreibt mir, was die Katholische Kirche für sie bedeutet. „Die Kirche ist Hüterin und Vermittlerin des Glaubens“, erklärt sie mir. „Mir persönlich schenkt sie Glauben, Hoffnung und Liebe. Schlussendlich führt mich die Kirche zu meinen Wertvorstellungen.“ Theresia ist jung und trotzdem gläubige Katholikin. Denn jedes Jahr verlassen Zehntausende Menschen in der Schweiz die Katholische Kirche. Laut Bundesamt für Statistik treten 36,8 Prozent der von nun an ehemaligen Katholiken aus, weil sie mit der Kirche nicht einverstanden sind, nicht weil ihnen z.B. der persönliche Glaube fehlt. „Das Vorurteil gegen meine Kirche, welches mich am meisten stört, ist der Generalverdacht gegen alle Priester, sie würden Kinder sexuell missbrauchen“, sagt mir Theresia.
Sie selbst habe ihren Glauben zwar auch schon hinterfragt, jedoch seien die Zweifel nie so stark gewesen, dass sie sich einen Kirchenaustritt hätte vorstellen können. „Die Kirche ist zentral für das Seelenheil“, meint sie. Das nimmt sie auch sehr ernst: Die Heilige Messe, der tägliche Rosenkranz, das Morgen- und Abendgebet sowie das Studieren religiöser Bücher gehören für sie zum Alltag dazu. Und nebenbei singt sie auch im Kirchenchor mit. Wir gehen nach dem Gespräch in die Kirche.
Heute Abend stehen zwei ältere Herren vorne am Altar, auf den Kirchenbänken verteilen sich etwa 20 Personen. Es sind vor allem ältere Menschen, aber ich sehe auch ein paar junge Gesichter. Die Kirche ist beeindruckend, schön gestaltet und hoch. Ich selbst verstehe vom Gesprochenen kein Wort. Doch das liegt nicht an den Geistlichen an sich – die bewundere ich für ihre Ruhe und die Kenntnis des exakten Ablaufs. Die Messe wird komplett in Latein geführt. Für Theresia stellt das kein grosses Problem dar, da sie sechs Jahre lang Lateinunterricht hatte. Im Gegenteil: Die lateinische Sprache gebe der Messe einen sakralen und zeitlosen Charakter. „Ich selber finde es sehr schön!“, schwärmt die junge Frau.
Die Kirchenbesucher feiern die Messe kniend, stehend und sitzend – das ganze Programm ist streng durchgeplant. Der Höhepunkt bildet die Kommunion, zu der die Gläubigen nach vorne kommen, wo ihnen die Hostie direkt in den Mund gegeben wird. Um 19:15 Uhr ist die Messe beendet. Nach und nach verlassen die Besucher die Kirche. So auch ich und Theresia. Wir verabschieden uns bei der Bushaltestelle. Für mich geht ein Abend mit Blick in eine andere Welt zu Ende. Eine Welt, in welcher wesentliche Reformen des Zweiten Vatikanischen Konzils abgelehnt werden. Eine Welt, zu deren Teilhabe ich Theresia für ihren Glaubenseifer und ihre Treue bewundere.
„Ich lebe für den ewigen Sohn Gottes“
Der Bahnhof Zürich Stettbach ist mein Treffpunkt mit Philip. Dort treffe ich ihn zum ersten Mal. Ein grossgewachsener, schlanker 19-jähriger, der mir anfänglich mehr Fragen stellt als ich ihm. Mit seiner Freundlichkeit, seiner Energie und seinem Interesse an mir fällt er mir auf. Wir fahren gemeinsam zum Versammlungsort des heutigen Abends. Philip ist nämlich Mitglied der evangelischen Gemeinde „Mitternachtsruf“. Der Mitternachtsruf wurde 1955 von Wim Malgo und Willy Straumann gegründet und hat seinen Hauptsitz in Dübendorf. Seine Themen sind vor allem die Verkündigung des Evangeliums und die Auslegung biblischer Prophetie.
Der Raum, in den ich und Philip eintreten, ist ein jugendlich anmutender Saal, der durch seine schmale, aber lange und hohe Form etwas an ein Kirchenschiff erinnert. Oben in der Mitte, für alle Besucher gut lesbar, prangt ein Holzschild mit der Aufschrift: „Gehet hin in alle Welt“. Die Worte sind beleuchtet, das Schild sieht selbstgemacht aus. Unter dem Schild versammeln sich etwa 70 junge Menschen, die jüngsten sind in den letzten Jahren ihrer Teenager-Zeit, die ältesten werden wohl Anfang Dreissig sein. Sie sind unterschiedlich gekleidet. Die einen kommen im lockeren T-Shirt und mit Käppi, andere wiederum, so wie Philip, kommen mit Hemd. Philip packt eine Bibel raus, deren Verbrauchsspuren durch die vielen unterstrichenen, hell markierten und beschriebenen Stellen deutlich erkennbar sind. Andere wiederum haben ihre Handys und Laptops dabei.
Dieser Freitagabend startet nach der Vorführung eines Imagefilms der Jugendgruppe mit Musik, ein paar Jugendliche stehen vorne und begleiten die Anbetungslieder instrumental mit. Der Prediger, welcher bald danach die Bühne betritt, ist ein humorvoller, frei sprechender Mann, Mitte 30, mit grauem Hemd und hellbrauner Hose. Seine Worte thematisieren das dritte Kapitel des Kolosser-Briefes. In dieser Auslegungspredigt wird das Kapitel Vers für Vers gelesen und erklärt. Durch die Gesten, seine lebendige Sprache und den Einbezug der Zuhörer kommt seine Predigt äusserst aktiv rüber.
Nach dem Jugendanlass sprechen ich und Philip miteinander. Er erzählt mir davon, wie er christlich erzogen wurde und im Mitternachtsruf aufwuchs. In seinem Inneren sah es aber lange Zeit anders aus. „Eigentlich hasste ich Gott“, sagt er selbst über diese Zeit, obwohl er nicht gegen seine Kirche rebelliert habe. Diese Zeit wurde im Sommer 2021 durch eine aufrüttelnde Predigt des amerikanischen Missionars Paul Washer beendet. Philip sah sich diese Predigt auf YouTube an und wurde „durch Gottes Gnade“, wie er sagt, so sehr bewegt, dass er sich bekehrte und sein Leben Christus übergab.
Ich frage Philip, was ihn an seiner Jugendgruppe am meisten gefällt. Seine Antwort kommt wie aus der Pistole geschossen: „Die Verkündigung vom Wort Gottes“. Das sei ihm auch das Wichtigste an der Jugendgruppe. „Und die Gemeinschaft mit Menschen, die denselben Weg gehen“, fügt er an. Und wie sieht er den Mitternachtsruf? „Unser Fundament ist das Wort Gottes. Der Mitternachtsruf ist bibeltreu“, schildert er mir.
Die Bibel würde auch als Richtschnur für sein eigenes Leben dienen. „Christus ist mein Leben. Ich lebe für den ewigen Sohn Gottes.“ Dieser Glaube war in der Vergangenheit aber nicht frei von Zweifel. Eine Frage, die er sich schon oft gestellt hat, lautet: “Ist das, was ich glaube, wirklich das, was die Bibel lehrt?“ Durch das persönliche Bibelstudium ist er sich aber immer sicherer geworden, was sein Verständnis vom Wort Gottes anbelangt.
Auch der Umgang mit Sünde beschäftigt Philip: „Das Paradoxe am biblischen Glauben ist: Je reifer du wirst, desto trauriger wirst du über deine eigenen Sünden. Doch je mehr du deine eigene Sündhaftigkeit erkennst, desto dankbarer wirst du für die Erlösung, die Jesus ein für alle Mal am Kreuz für dich vollbrachte“. Zum Schluss bedanke ich mich für den Einblick in seine Welt. Für mich geht ein spannender Freitagabend zu Ende.
„Unsere Hauptberufung ist die Liebe zueinander“
Mitten in der Stadt Zürich steht sie: Die russisch-orthodoxe Auferstehungskirche, welche einst ein evangelisches Gotteshaus war und 2003 zu ihrer heutigen Form umgebaut wurde. Die Kirche wirkt von aussen nicht wie eine Kirche. Sie ist der Strasse angepasst, nicht hoch, für ein sakrales Gebäude mit regelmässigen Gottesdiensten auch eher klein. Drinnen treffe ich Maxim. Er ist 18 Jahre alt, gross, schlank, Brillenträger und studiert im zweiten Semester Politik an der Uni Zürich.
Im Gegensatz zu vielen anderen Menschen, denen ich an diesem Sonntagvormittag noch begegnen werde, spricht Maxim akzentfreies Schweizerdeutsch. Er selbst sei auch Schweizer. Mit russischen Wurzeln. Das erklärt auch, warum er in der russisch-orthodoxen Kirchgemeinde aufwuchs: Dreiviertel der russischen Bevölkerung sind orthodoxe Christen. Auch in anderen Ländern ist das orthodoxe Christentum verbreitet. So z.B. in Rumänien, Serbien, Georgien und Griechenland. Der Ritus sei derselbe, erklärt mir Maxim, die Unterschiede zu den anderen kanonisch unabhängigen orthodoxen Kirchen sind vor allem die Sprache und die verschiedenen Gewänder, welche Geistliche während dem Gottesdienst tragen.
Maxim gehört auch zu denen, die an diesem Morgen ein geistliches Gewand tragen. Seines ist rot und golden. Auch diejenigen der anderen sind rot-golden. Nur die Priester tragen unter der rotgoldenen Robe noch ein weisses Unterkleid. Die Farbe Rot symbolisiert für die Orthodoxen die Auferstehung Jesu. Maxim ist ein sogenannter „Altarnik“. Ein Altarnik ist in der orthodoxen Kirche das, was ein Ministrant bei den Katholiken ist. Zu seinem Dienst gehört die Unterstützung des Priesters, der Putzdienst in der Kirche und das Entzünden des Weihrauchs. Dieser ist auch heute deutlich riechbar für mich und die gut 200 weiteren Besucher. Diese Besucherzahl sei, so Maxim, im Durchschnitt. An Festtagen wie beispielsweise zum Osterfest kämen über 400 Gottesdienstbesucher zusammen.
Der Gottesdienst selbst dauert mehr als zwei Stunden. Gebetet wird auf Kirchenslawisch (welches für Orthodoxe eine ähnliche Rolle einnimmt wie für Katholiken das Latein), Deutsch, Griechisch und Georgisch. Multikulti eben. Die einen sind Russen, die anderen Georgier, Ukrainer, Weissrussen und Einzelne sind sogar „Bio-Schweizer“. Speziell finde ich am Gottesdienst, dass Sitzgelegenheiten nicht existent sind (abgesehen von ein paar Holzsitzen im hinteren Teil der Kirche). Zum Gottesdienst steht man.
Der Ablauf des Morgens besteht aus Gebeten, Liedern, dem Abendmahl, sprich der Eucharistie, einer kurzen Predigt am Schluss und dem Lesen aus der Bibel. Das meiste wird gesungen. Unter den Besuchern sind auffallend viele Junge und Menschen mittleren Alters. Senioren sieht man hier nur vereinzelt. Die Frauen tragen ein Kopftuch und einen Rock, bei den Männern darf es auch legerer sein – wobei es auch viele Männer gibt, die mit Hemd erscheinen.
Während der Liturgie ist einiges los: Kinder springen zwischen den erwachsenen Besuchern herum, immer wieder bekreuzigen und verneigen sich die Gläubigen, viele Kerzen werden angezündet und auf die kleinen Kerzentische gestellt, Reliquien werden geküsst und Ikonen bestaunt und gehuldigt. Der Ablauf der Liturgie ist durchgetaktet und absolut einstudiert. Das merke ich. Jeder Geistliche weiss, was er zu tun hat. Sowohl die Chorsänger auf der schmalen Empore als auch die Altarnik und der Pfarrer.
Das Ganze erscheint mir wie ein „Klein-Russland“ mitten in der Stadt Zürich. Nicht allen gefällt das: Auf den Nachbarhäusern gegenüber der Kirche hängen Ukraine-Flaggen und der Schriftzug „Courage“. Die Nachbarn geben der Kirchgemeinde klar zu verstehen, dass sie hier unerwünscht sind. Laut Maxim ignoriert die Kirche solche Reaktionen aber. Und ausserdem würden sie als Orthodoxe auch für den Frieden in der Ukraine beten.
Dass die russisch-orthodoxen Christen intolerant seien und keine Liebe hätten, nennt Maxim das Vorurteil, welches ihn am meisten über seine Konfession stört. „Unsere Hauptberufung ist die Liebe zueinander“, erklärt er mir. Dies gelte nicht nur für die orthodoxen Christen. „Wir sind alle Brüder in Christus“, sagt er, und meint damit auch ganz bewusst Reformierte und Katholiken. Obschon es bedeutende Unterschiede gibt zwischen den Konfessionen, welche auch Maxim betont. Das Priestertum von Frauen bei den Evangelen und die Rolle des Papstes bei den Katholiken seien z.B. solche Unterschiede. Die orthodoxe Kirche sieht sich, so Maxim, als „allumfassende und apostolische Kirche“.
Maxim betet am Morgen und am Abend, dient der Kirche, geht zur Kommunion und trifft wichtige Lebensentscheidungen im Gebet. So hat er sich für sein Studium entschieden, nachdem er um Gottes Führung in dieser Sache gebetet hat. „Mit der Zeit bin ich geistlich gewachsen“, bekennt er mir. Es ist bereits früher Nachmittag, als ich mich von Maxim und der Auferstehungskirche verabschiede. Bleiben wird ein Einblick in eine fremde, völlig andere Welt, wie ich sie noch nie in meinem Leben gesehen habe. Einerseits wirkt sie daher unnahbar für mich, andererseits kann ich es absolut verstehen, dass dieser jahrhundertealte Ritus, welcher auch die erbitterten Christenverfolger Lenin und Stalin nicht auszurotten vermochten, noch heute Menschen begeistern kann.