Die erste Generation der „Digital Natives“ möchte heiraten und Kinder haben. Dies zeigen die neuesten Daten der Eidgenössischen Jugenderhebung „ch-x“. Gleichzeitig streben junge Schweizerinnen und Schweizer nach Unabhängigkeit und individueller Selbstverwirklichung. Zerreissproben sind vorprogrammiert. Wer hilft Jugendlichen, Prioritäten zu setzten, die sie später nicht bereuen?
Von Dominik Lusser
Junge Erwachsene stehen in einem Spannungsfeld zwischen dem Wunsch nach individueller Selbstverwirklichung, und dem Festhalten an tradierten Strukturen mit eher kollektivistischer Orientierung. Neue Medien, die in ihrer Art und Form fast unendliche Möglichkeiten eröffnen, erschweren diesen Prozess noch zusätzlich. „Damit ist diese Generation mit der Herausforderung konfrontiert, viele inkommensurable Wünsche und Verpflichtungen zu vereinen“, schreiben die Autoren der „ch-x“-Erhebung zu Wertvorstellungen unter 50’000 stellungspflichtigen Männern in den Jahren 2012/13 sowie rund 1’800 gleichaltrigen Schweizerinnen.
Diese Spannung spiegelt sich auch in den von jungen Schweizerinnen und Schweizern favorisierten Werten: Nächstenliebe (Erhaltung und Förderung des Wohlergehens von nahestehenden Menschen) rangiert hier knapp vor Hedonismus (sinnliche Befriedigung und Genuss) und Unabhängigkeit (umfasst u.a. Freiheit, Kreativität, Unabhängigkeit, eigene Ziele wählen, Neugierde).
Ehe, Familie und Kinder hoch im Kurs
Rund 69 Prozent der befragten jungen Erwachsenen möchten heiraten. Nur 11 Prozent bevorzugen eine unverheiratete Partnerschaft als Beziehungsmodell. 80 Prozent der „Digital Natives“ sehen die Heirat als etwas Romantisches. Nur 44 Prozent stimmen der Aussage zu, es mache keinen Unterschied, ob man heirate oder in einer festen Partnerschaft zusammenlebe.
73 Prozent der jungen Erwachsenen wollen Kinder haben, sehen diesen Wunsch jedoch an bestimmte Bedingungen geknüpft. 76 Prozent empfinden die Bereitschaft einer der Partner, beruflich zu reduzieren, als Voraussetzung dafür an, den Kinderwunsch zu realisieren. 30 Prozent der befragten jungen Frauen mit Kinderwunsch möchten sogar mehr als zwei Kinder haben. Bei den Männern sind es 27 Prozent.
Für die Phase der ersten drei Lebensjahre eines Kindes ziehen 70 Prozent der befragten Männer und 66 Prozent der Frauen grossmehrheitlich ein traditionell bürgerliches oder modernisiert bürgerliches Familienmodell vor. Dem Mann kommt als Vollzeitbeschäftigter die Ernährerrolle zu, während sich die Frau entweder vollumfänglich um die Kinder kümmert, oder (vorzugsweise) nur einer Teilzeitbeschäftigung nachgeht. Mit Ausnahme der Grossstädte möchten junge Frauen in allen Wohnumgebungen in den ersten drei Lebensjahren ihres Kindes sogar mehrheitlich keiner ausserfamiliären Arbeit nachgehen.
Generation „sowohl als auch“
„Insgesamt betrachtet weisen die Resultate auf eine Koexistenz von Streben nach individueller, unabhängiger Selbstverwirklichung, hohen beruflichen Ambitionen und dem Wunsch, tradierte Lebensentwürfe zu verwirklichen, hin“, resümieren die Autoren. In manchen Bereichen deuteten sich Brüche an: „Die hohen beruflichen Ambitionen und die relativ geringe Wichtigkeit der Karriere stehen beispielsweise in Kontrast, ebenso der Wunsch nach einer traditionellen Familienplanung und die hohen beruflichen Ambitionen von Frauen.“ Diese Inkonsistenzen seien für die jungen Erwachsenen allerdings nur schwer wahrnehmbar, da sie davon ausgingen, dass Wohlstand und Gestaltungsfreiraum selbstverständlich und stabil seien. Die Forscher betonen, „dass die versteckten Inkonsistenzen das Potential haben, längerfristig zu Enttäuschungen und sozialen Konflikten zu führen.“
Die Zerrissenheit, welcher die Generation „sowohl als auch“ ausgesetzt ist, zeigt sich nicht zuletzt auch in ihrem Verhältnis zur Sexualität; einem Bereich, in dem es besonders anspruchsvoll ist, Bedürfnisse wie Freiheit und Bindung in ein harmonisches Verhältnis zu bringen. Während gemäss der Shell-Jugendstudie 2010 eine grosse Mehrheit der Jugendlichen eine Sehnsucht nach einer verbindlichen und festen Partnerschaft angibt (was auch in der Studie von 2015 bestätigt wurde), finden es gleichzeitig (gemäss der repräsentativen Dr.-Sommer-Studie 2009) 44 Prozent aller befragten 11-17-jährigen Jungen und 25 Prozent der Mädchen okay, Sex zu haben, ohne verliebt zu sein. Auch können sich 73 Prozent der sexuell erfahrenen Jungen und 48 der Prozent der Mädchen einen One-Night-Stand vorstellen.
Die Autoren der ch-x-Erhebung sehen zurecht die Familie als Ort, an dem sich die potentiellen Spannungen zwischen dem Wunsch nach Ehe und Familie einerseits und der individuellen Selbstverwirklichung anderseits dereinst entladen und zur Zerreisprobe führen könnten: „Im Unterschied zur Betonung von individuellen Freiheiten, wie sie bei den Werten zum Ausdruck kommt, zeigt sich bei der Familie eine Bevorzugung von traditionellen Modellen. Die Familie bleibt damit eine wichtige Institution, in der Spannungen bzw. Vereinbarkeit von individuellen und kollektiven Bedürfnissen ausgehandelt werden.“
Ein gespannter Bogen…
Eine stabile Partnerschaft und Familie stehen auch bei der jüngsten erwachsenen Generation ganz oben auf der Liste der langfristigen Lebensziele. Dies ist nichts Neues und auch keine Mode, sondern eine zeit- und kulturübergreifende menschliche Konstante. Dauerhafte, stabile Paarbeziehungen und Familie sind unersetzbare soziale Grundformen, in denen sich menschliches Glück realisiert. Weltweit haben Studien immer wieder gezeigt, dass die verbindliche Gemeinschaft von Mann und Frau die grösste Lebenszufriedenheit, sexuelle Zufriedenheit und Chance auf Treue beinhaltet.
Dieses Glück steht in Spannung zur individuellen Selbstverwirklichung. Dass der Bogen allzu oft überspannt wird und schliesslich bricht, zeigt die hohe Scheidungsrate von über 40 Prozent. Doch auch die Ursachen für Ehescheidungen, welche der Familienbericht des Bundesrats 2017 nennt, sind erhellend. Diese reichen von Ehekonflikten, divergierenden persönlichen Entwicklungen bis zum Auftreten eines attraktiven neuen Partners. „Befragt man Geschiedene nach Gründen für die Auflösung der Ehe stehen Unzufriedenheit mit dem Partner (…), gegenseitige Kommunikationsschwierigkeiten, enttäuschte Erwartungen, erloschene Liebe und Gleichgültigkeit des Partners sowie täglicher Stress im Vordergrund.“ In nicht wenigen Fällen seien auch Gewalt in der Ehe oder ein Suchtproblem ein zentraler Scheidungsgrund.
… der auch brechen kann
Der Zürcher Psychologieprofessor Guy Bodenmann betonte 2016 gegenüber dem Infodienst von Zukunft CH: Längerfristige Liebe und Stabilität der Partnerschaft erfordern ein dreifaches Engagement. Erstens brauche es das kognitive Commitment im Sinne eines Vorsatzes, in die Beziehung investieren zu wollen, zweitens das emotionale Commitment dahingehend, dass der Partner als die wichtigste Bezugsperson definiert wird. Und drittens das sexuelle Commitment als Engagement für eine lebendige Sexualität und Treue.
Wenn in einer Ehe beide Partner vollzeitig berufstätig sind, besteht die Gefahr, dass die emotionale Nähe verloren geht. „Entfremdung ist eine häufige Scheidungsursache geworden“, sagte Bodenmann 2011 gegenüber dem Tagesanzeiger. Der Psychologe weiss aus Erfahrung: Doppelt berufstätige Paare nehmen sich häufig zu wenig Zeit, um die Paarbiografie wachsen zu lassen und das Wir-Gefühl zu pflegen. Sie „managen“ den Alltag und begegnen sich nicht mehr wirklich, sind innerlich nicht für den anderen da. „In der Not reden sie dann von ,QualityTime‘ im Privatleben.“ Dass das Hinzukommen von Kindern das Trugbild der Vereinbarkeit von Karriere und gelungenem Privatleben nicht realistischer werden lässt, liegt auf der Hand.
Familie bedeutet Selbsthingabe
Glückliche Ehe und Familie verlangen ein entschiedenes Engagement der ganzen Person, das auch Selbsteinschränkungen und Opfer beinhaltet. Dauerhaftes Liebesglück und narzisstische Fixierung auf sich selbst sind unvereinbar.
Unsere zunehmend materialistisch-hedonistische und individualistische Kultur bietet jungen Menschen allerdings wenig Hilfe, ihr Familienglück zu realisieren und nachhaltig zu pflegen. Darauf haben kürzlich zehn europäische Intellektuellen in einem kulturkritischen Manifest (Die Pariser Erklärung, Oktober 2017) aufmerksam gemacht. Sie konstatieren eine Schwächung der Ehe durch den liberalen Hedonismus: „In der aufgewühlten See der sexuellen Freiheit werden die Wünsche junger Menschen, zu heiraten und Familien zu gründen, oftmals enttäuscht.“
„Der Bund der Ehe erlaubt es Mann und Frau, in Gemeinschaft zu gedeihen. Die meisten Opfer, die wir bringen, bringen wir um unserer Kinder und Ehepartner willen“, sind die Philosophen aus acht Ländern überzeugt. Diese „Haltung der Selbsthingabe“ sei das Fundament der Gemeinschaft und die Basis für die Harmonie zwischen Mann und Frau. Die Ehe sei „das intime Band, welches das gemeinsame Leben und das Aufziehen von Kindern ermögliche und erhalte. „Diese Opfer sind edel und müssen anerkannt und honoriert werden. Wir fordern eine umsichtige Sozialpolitik, die Ehe, Kinder und Kindererziehung unterstützt und stärkt.“
Eine Freiheit hingegen, die unsere innigsten Herzenswünsche frustriere, werde zu einem Fluch. „Unsere Gesellschaften scheinen sich aufzulösen in Individualismus, Isolation und Ziellosigkeit. Anstelle wahrer Freiheit sind wir zur leeren Konformität einer konsum- und mediengesteuerten Kultur verurteilt.“ Die Generation der Achtundsechziger habe zerstört, aber nicht aufgebaut. Sie habe ein Vakuum geschaffen, das nunmehr mit sozialen Medien, Billigtourismus und Pornografie aufgefüllt werde.
Wer hilft den „Digital Natives“, die Spannungen, denen sie ausgesetzt sind, in die richtige Richtung aufzulösen? Wer gibt ihnen Orientierung, damit sie sinnstiftende und zukunftsträchtige Entscheidungen treffen?
Eltern, Lehrer, Ausbildner, Seelsorger, Therapeuten und Politiker sind gefragt, wenn die Generation der Digital Natives zu „ehe- und familienfähigen“ Menschen heranwachsen soll!
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Die Borschüre „Plädoyer für die Ehe“ (Zukunft CH, 2017) zeigt den persönlichen und gesellschaftlichen Mehrwert der Ehe auf. Eine Lektüre, die auch jungen Menschen viel Orientierung bietet: http://www.zukunft-ch.ch/de/publikationen/fachbroschueren/