In der Reproduktionsmedizin ist der Kundenwunsch das Mass aller Dinge. Betroffenen Kindern und ihren Interessensvertretungen schenkt man kaum Gehör. Die Wiener Bioethikerin Susanne Kummer übt im Interview mit Zukunft CH schwere Kritik an der künstlichen Befruchtung (IVF) mit fremden Samenzellen, die von immer neuen Kundengruppen in Anspruch genommen wird.

Von Dominik Lusser

In politischen Debatten hört man bisweilen, die Anwendung von IVF bei heterosexuellen unfruchtbaren Paaren sei „therapeutisch“, wohingegen deren Anwendung bei Alleinstehenden und lesbischen Paaren „nicht therapeutisch“ sei. Sie vertreten die Auffassung, künstliche Befruchtung sei nie therapeutisch. Wie meinen Sie das?

Therapie bedeutet Heilung. Mit der künstlichen Befruchtung wird aber keine Krankheit geheilt, sondern umgangen. Die Frau bleibt danach genauso unfruchtbar, wie sie vorher war, wenn sie es tatsächlich war. Meist sollte man besser von Subfertilität sprechen, nicht von Infertilität. Reproduktionsstörungen können natürlich pathologisch sein und deshalb medizinisch behandelt werden. Die künstliche Befruchtung zählt aber nicht dazu. Sie behebt die Unfruchtbarkeit nicht, sie umgeht sie bloss. Daher ist sie nicht therapeutisch.

Welcher Gedanke steht hinter der Vorstellung der IVF als Therapie?

Zu sagen, dass die IVF eine Therapie ist, schliesst unausgesprochen den Gedanken mit ein, dass ungewollte Kinderlosigkeit eine Krankheit ist. Das aber muss hinterfragt werden. Natürlich ist das Leiden an einem unerfüllten Kinderwunsch für Paare eine existentielle Krise, eine grosse Trauer, vielleicht der Abschied von einem Lebensprojekt. Die Frage aber ist: Kann ich alle Menschen, die ihr Lebensziel nicht erreichen konnten, als krank definieren? Der Nachwuchs kann aufgrund vieler verschiedener Gründe ausbleiben: z.B. aufgrund von Ovulationsstörungen, er kann aber auch einfach ausbleiben, weil die Altersgrenze überschritten ist oder weil kein (geeigneter) Partner gefunden wurde. Aber sind diese Menschen deshalb krank? Und dies führt zur nächsten Frage: Ist die Medizin in all diesen Fällen zuständig? Wir beobachten hier ebenso wie in anderen Bereichen, dass sich die Medizin zunehmend zur Wunschmedizin wandelt, wo es keine Patienten gibt, sondern Kunden. Es kann aber nicht sein, dass der Wunsch das höchste und einzige Kriterium in der Medizin ist, um eine Behandlung durchzuführen. Das kennen wir etwa aus der Schönheitschirurgie. Auch die Finanzierung durch die Solidargemeinschaft darf hier nicht ausser Acht gelassen werden.

Was ist das ethische Problem daran, IVF als „Therapie“ zu sehen?

Der Ansatz der Reproduktionsmedizin liegt in der „Heilung“ der Kinderlosigkeit durch ein Kind. Dadurch wird das Kind zum Objekt, zum Therapeutikum, und das ist ein Ansatz, der ethische Probleme mit sich bringt. Denn dann fragt man sich ja auch: Wem kann das verwehrt werden? Jeder, der leidet unter Kinderlosigkeit und dem starken Wunsch, ein Kind zu haben, hat dann auch Anspruch auf ein Kind. In dem Moment, in dem ich mich nicht mehr an einer medizinischen Indikation orientiere, sondern allein am Wunsch des Paares, kommen auch die Wünsche von Singles, Witwen und homosexuellen Paaren. Heute spricht man auf diesem Markt, der sich immer neue Kundensegmente zu erschliessen versucht, bereits vom „geriatrischen Kinderwunsch“, also die Zielgruppe von Frauen nach der Menopause.

In der Schweiz wird aktuell darüber debattiert, ob lesbische Paare Zugang zur Samenspende erhalten sollen. Gibt es in ethischer Hinsicht Unterschiede zwischen der IVF mit eigenen bzw. fremden Samenzellen?

Dass jedes Kind optimalerweise unter der Obhut beider Elternteile aufwächst, wird kaum von jemandem angezweifelt. Und insofern ist die homologe Insemination, bei der der genetische Vater des Kindes auch der Partner bzw. Ehemann der genetischen Mutter ist, die das Kind zur Welt bringt, noch der bessere Fall. Dieser ermöglicht es dem Kind, beide Elternteile zu kennen und von ihnen betreut und grossgezogen zu werden. Einen klaren Rückschritt für das Wohl des Kindes bedeutet es aber, wenn man die heterologe Insemination, d.h. die Inanspruchnahme fremder Samenzellen, erlaubt. Denn damit hat das Kind schon drei Elternteile, mit denen es zurechtkommen muss. Seine Identität wird fragmentiert. Es kommt zu einem Splitting der genetischen und sozialen Elternschaft. Wenn die IVF schon an sich Grundzüge der Entpersonalisierung der Weitergabe des Lebens trägt, die sich auf alle Beteiligten auswirken, so werden diese bei der IVF mit fremden Samenzellen verstärkt.

Wie wirkt sich das auf das Leben betroffener Kinder aus?

Schauen wir uns die Tausenden von Kindern an, die durch Samenspende zur Welt gekommen sind, und fragen wir uns: Welches Vaterbild unterstützen wir damit in einer zunehmend vaterlosen Gesellschaft? Es ist das Bild von Vätern, die Kinder in die Welt setzen lassen und keine Verantwortung übernehmen. Was ist das für ein Zugang zu verantwortungsvoller Vaterschaft? Künstliche Befruchtung mit fremdem Samen trägt inhärent den Zug der Entpersonalisierung und auch der Bindungslosigkeit zwischen der genetischen Herkunft und den Personen, mit denen ein Kind aufwächst. Damit bürdet man Kindern einiges auf. Sie wachsen in einem familiären Niemandsland auf. Wir haben es zu tun mit einer eigenartigen Leibferne. Man tut so, als ob der Leib nur Rohstoffmaterial wäre. Dabei ist die leibliche Herkunft Teil der Identität. Betroffene Kinder haben sich inzwischen zu Selbsthilfeorganisationen für Fremdsamenspender-Kinder oder Anonyme-Samenspender-Kinder zusammengeschlossen und pochen auf ihre Rechte. Sie tauschen sich aus und suchen nach Möglichkeiten, doch ihren genetischen Vater kennenzulernen.

Gibt es auch Studien zu diesem Thema?

Bislang noch wenige. Laut einer britischen Studie aus 2010 wollen 92 Prozent der betroffenen Kinder Kenntnis von ihrem genetischen Vater haben. Sie geben als Grund für ihre Suche an, dass ihnen etwas in ihrer Identität fehlt. Und das muss einem doch zu denken geben. Wir leben nicht in einer körperlosen Welt. Der Leib zeigt unsere Herkunft auf, er bezeugt, von wem ich abstamme. Von Betroffenen ist mehrfach kritisiert worden, dass ihre Sichtweise nicht einbezogen wird in der öffentlichen Wahrnehmung. Sie haben keine Stimme.

Wie beurteilen Sie die Rechtslage in dieser Frage?

In Österreich haben Kinder mit 15 Jahren (in der Schweiz mit 18 Jahren) ein Recht darauf zu erfahren, wer ihr genetischer Vater ist. Das ist zweischneidig, denn es setzt voraus, dass das Kind überhaupt aufgeklärt wird darüber, dass es durch Samenspende entstanden ist. Das ist aber häufig ein Tabu. Dabei wissen wir aus der Adoptionsforschung, wie wichtig es ist, dass Kinder schon früh aufgeklärt werden über die Zusammenhänge ihrer Entstehung und woher sie kommen. Dass ihre Eltern gar nicht ihre Eltern sind, damit müssen die Kinder erst einmal fertig werden. Sie erleben eine grosse Trauererfahrung, die von den Kindern bewältigt werden muss. Da haben wir viele Erfahrungen aus der Adoptionsforschung, die sträflich vernachlässigt werden.

Laut Schätzungen von Psychologen werden in der Schweiz weniger als 5 Prozent der Kinder über ihre Identität aufgeklärt. Angenommen, ein Kind wird früh aufgeklärt und erfährt mit 15 oder 18 Jahren die Identität seines Vaters: Sind dann alle Probleme gelöst, wie Politiker einem glaubhaft machen wollen?

Auch wenn Kinder nicht erfahren oder auch bevor sie erfahren, woher sie stammen, ahnen sie oft, dass es da ein „Geheimnis“ gibt rund um ihre Entstehung; wenn sie nicht ausschauen wie die anderen, wenn die Blutgruppe anders ist, usw. Und in dem Moment, wo sie erfahren, dass ihr Vater nicht ihr leiblicher Vater ist, fällt es ihnen oft wie Schuppen von den Augen. Und dann beginnt die Geschichte eigentlich erst. Darum bin ich froh, dass sich diese jungen Menschen in den Medien zu Wort melden und ihre Geschichten erzählen, was es z.B. heisst, dass du drei, fünf oder zehn Halbgeschwister hast und sich dein Vater nie um dich gekümmert hat. Dazu kommt: Wenn ein Kind seinem leiblichen Vater persönlich begegnet, dann ist das eine psychosozial einschneidende Erfahrung. Beide Seiten müssen vorbereitet werden. Da geht es nicht bloss um den technokratischen Akt der behördlichen Auskunft über die Identität des Vaters. Doch um diese anspruchsvolle, vielschichtige Problematik kümmert sich die Politik nicht. In Österreich gibt es bis heute noch nicht einmal ein zentrales Melderegister für Samen- und Eizellspenden, was die erste Voraussetzung dafür wäre, um langfristig das Recht auf Ermittlung der eigenen Identität überhaupt sichern zu können.

Wie kann sich der Umgang mit diesem Thema, bei dem es um menschliche Schicksale geht, verändern?

Meine Hoffnung ist, dass die betroffenen Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die auf diese Weise entstanden sind, ihre Stimme erheben, um ihr Leid und ihre Schmerzen kundzutun. Das geschieht auch immer mehr. Erfährt beispielsweise ein pubertierender Junge von seiner Mutter, er sei aus einer Pipette, kann es zu einer besonderen Ablehnung und Aggression gegenüber der Mutter kommen, weil der Junge realisiert, dass nicht einmal die Mutter seinen Vater kennt, und sei es nur von einem One-Night-Stand, sondern dass er aus einem Labor stammt. Das macht etwas mit uns.

Und wie steht es um die physische Gesundheit von IVF-Kindern?

Die diesbezügliche Forschung wird stiefmütterlich behandelt. In der Forschung spielen pharmazeutische Firmen eine gewichtige Rolle, auch in der Co-Finanzierung von Studien. Wenn man aber selbst an der IVF verdient, ist das Interesse daran nicht so gross. Einer der grössten Vorwürfe an die beiden Ärzte Robert Edwards und Patrick Steptoe, die Entwickler der künstlichen Befruchtung – weswegen sie zunächst auch keine staatlichen Forschungsgelder bekommen haben – war, dass das Verfahren der IVF klinisch nicht ausgereift ist. Wir haben es eigentlich mit einem der grössten klinischen Humanexperimente des 20. bzw. 21. Jahrhunderts zu tun. Es ist nicht so, dass das Verfahren zuerst am Tiermodell ausgereift und dann auf den Menschen übertragen wurde. Man hat es von Anfang an am Menschen ausprobiert.

Der Deutsche Ethikrat legte 2011 Zahlen vor, wonach für Mehrlinge aus IVF ein verzehnfachtes Risiko für eine Frühgeburt und ein doppeltes Risiko für schwere Behinderungen besteht. Aber auch bei Einlingen aus IVF gibt es ein vierfach höheres Risiko für eine Frühgeburt und geringeres Geburtsgewicht, was mit späteren Schäden verbunden sein kann. Eine Studie des Kardiologen Urs Scherrer vom Inselspital Bern von 2018 zeigt, dass IVF ein Risiko darstellt für Bluthochdruck in der Adoleszenz und vorzeitig gealterte Blutgefässe. Daraus resultiert ein erhöhtes Risiko für Herzkreislauferkrankungen – ähnlich wie bei Rauchern. Es wird vermutet, dass die bei der IVF verwendeten hochkonzentrierten Nährlösungen zu epigenetischen Veränderungen bei den so gezeugten Embryonen führen und so diese gesundheitlichen Schädigungen hervorrufen können. Selbst von Reproduktionsmedizinern wird kritisiert, dass die Herstellerfirmen zum Teil bis heute nicht bekannt geben, aus welchen Wirkstoffen diese Nährlösungen zusammengesetzt sind. Es werden also Verfahren am Menschen angewendet, ohne vorher rigoros geprüft zu haben, welche Langzeitfolgen sie haben können.

Wie beurteilen sie den gesellschaftlichen Trend, dass immer mehr Kundengruppen IVF in Anspruch nehmen (dürfen)? Was kommt als Nächstes?

Es gibt einen Unterschied, ob Vaterlosigkeit von vornherein geplant wird, wie beispielsweise bei der Inanspruchnahme von IVF durch Singles oder lesbische Paare, oder ob es nachträglich dazu kommt, etwa durch Scheidung oder den Tod des Vaters. Kinder haben ein Recht auf Vater und Mutter, und nicht umgekehrt. Es gibt kein Recht auf ein Kind. Das Kindeswohl muss klar Vorrang haben vor dem Kinderwunsch.

Wenn diese Ordnung umgekehrt wird, ist der nächste Schritt die Legalisierung der Leihmutterschaft. Die Erfüllung eines Kinderwunsches darf aber nicht jeden Preis haben. Leihmutterschaft missachtet grundlegende Rechte der Frau und des Kindes. Deshalb haben wir in Österreich das Netzwerk „Stoppt Leihmutterschaft“ (https://www.stoppt-leihmutterschaft.at/) ins Leben gerufen, wo wir uns über alle Weltanschauungen hinweg gemeinsam auf einer Plattform gegen Leihmutterschaft engagieren. Die Leihmutterschaft macht das Kind zur Ware und liefert die Leihmutter Bedingungen aus, die mit Sklaverei vergleichbar sind. Darum kann man ganz klar sagen: Eine ethisch vertretbare Leihmutterschaft gibt es nicht.

Frau Mag. Susanne Kummer ist Geschäftsführerin des Instituts für Medizinische Anthropologie und Bioethik (IMABE) sowie Schriftleiterin des Bioethik-Journals „Imago Hominis“.