Das Bistum Chur erhob Beschwerde beim Bundesgericht – und verlor. Hintergrund der Beschwerde war, dass die Katholische Landeskirche Graubünden die Beratungsorganisation „adebar“ finanziell unterstützt, eine Organisation, die sich mit den Leitlinien von „Planned Parenthood“ identifiziert. Das Urteil, das Ende 2018 fiel und seitdem für Gesprächsstoff sorgt, zeigt deutlich die Problematik des Schweizer Staatskirchensystems auf und ist für die römisch-katholische Kirche mehr als unbefriedigend.

Von Ralph Studer

Bevor das Bundesgerichtsurteil[1] näher erläutert wird, ist zunächst auf die in der Schweiz bestehenden Strukturen einzugehen. In vielen Kantonen – wie auch in Graubünden – besteht in Bezug auf die römisch-katholische Kirche ein Dualismus, das heisst, es existieren einerseits die Weltkirche kanonischen (kirchlichen) Rechts mit ihren Diözesen und Pfarreien und andererseits die durch den Staat geschaffenen Landeskirchen mit ihren Kirchgemeinden.[2] Diese beiden Strukturen sind jedoch unterschiedlich ausgestaltet: Während die römisch-katholische Kirche hierarchisch gegliedert und der Treue zur Bibel und ihrer Lehreradition verpflichtet ist, basiert die Landeskirche auf säkularem Recht und demokratischen Grundsätzen, weshalb allfällige Entscheidungen in der Landeskirche per  Mehrheitsentscheid gefällt werden. Diese einleitenden Ausführungen verdeutlichen, dass im kirchlichen Bereich in der Schweiz zwei völlig unterschiedliche Strukturen aufeinandertreffen.

Konflikt zwischen Diözese und Landeskirche

Wie aus der Medienmitteilung des Bistums Chur vom 30. Januar 2019 zu entnehmen ist[3], hat sich das Bistum Chur zunächst vor den Bündnerischen Gerichten und dann vor dem Bundesgericht in Lausanne gegen die finanzielle Unterstützung der Organisation „adebar“ durch die Landeskirche gewehrt. „adebar“ ist eine Vereinigung, deren Tätigkeiten sich mit dem katholischen Glauben und der katholischen Ethik nicht vereinbaren lassen. So identifiziert sich dieser Verein mit den Sichtweisen der amerikanischen Abtreibungsorganisation Planned Parenthood“ und sieht die Abtreibung als legale Option an. Zudem führt „adebar“ Schwangerschaftsberatungen durch und stellt entsprechende Beratungsbestätigungen für straflose Abtreibungen bei Minderjährigen aus, befürwortet künstliche Verhütungsmethoden und die „Pille danach“ und steht auch u.a. der In-vitro-Fertilisation samt Samenspende sowie der neo-emanzipatorischen Sexualpädagogik[4] positiv gegenüber.

Nachdem die Landeskirche den Antrag des Bistums auf Beendigung der Zusammenarbeit mit „adebar“ abgelehnt hatte, sei nur noch der Rechtsweg bis zum Bundesgericht übriggeblieben, führt das Bistum Chur aus. Das vorliegende Urteil des Bundesgerichts vom 17. Dezember 2018 zeige nun, dass eine vom Staat geschaffene „Landeskirche“ entgegen der Glaubenslehre der katholischen Kirche und entgegen der Anträge der katholischen Kirchenleitung eine Organisation wie „adebar“ unterstützen dürfe. Somit könne eine vom Staat geschaffene Vereinigung, nämlich die Landeskirche, von katholischen Gläubigen Steuern eintreiben und diese finanziellen Mittel in Projekte finanzieren, die gegen die katholische Lehre verstosse. Dies müsse die römisch-katholische Kirche in der Schweiz offenbar so hinnehmen, so das Bistum Chur.[5]

Diese Ausführungen des Bistums Chur lassen aufhorchen und der Leser mag sich fragen, ob das wirklich sein könne. Müsste die katholische Landeskirche Graubünden, welche von ihren katholischen Mitgliedern Steuern erhebt, nicht im Dienst der römisch-katholischen Weltkirche stehen? Müsste sie somit nicht auch die katholische Lehre einhalten? Solche oder ähnliche Fragen kann bzw. muss man sich vor allem als katholischer Gläubiger stellen.

Verletzung der Religionsfreiheit?

Im Wesentlichen prüfte das Bundesgericht, ob diese Beitragszahlung an die Organisation „adebar“ durch die Landeskirche gegen die Religionsfreiheit der Schweizerischen Bundesverfassung, auf die sich das Bistum Chur berief, verstösst.

Einleitend bezeichnet das Bundesgericht die „Landeskirche“ als Teil der Staatskirchenstruktur, die sich nach dem staatlichen Recht richtet. Das Bundesgericht führt weiter aus, dass die für „adebar“ bestimmten Gelder aus den Einnahmen der katholischen Landeskirche stammen, und zwar aus den Erträgen der staatlichen Kultussteuer, also der Kirchensteuer. Soweit, so gut. Doch dann kommt der entscheidende Passus, worin das Bundesgericht ausdrücklich festhält, dass gemäss geltender Rechtslage diese Gelder, welche die Landeskirche „eintreibt“, nicht Gelder der katholischen Kirche seien, sondern staatliche Finanzmittel.[6] Dies bedeutet, wie das Bistum Chur zurecht festhält, „dass diese Mittel unabhängig von der katholischen Kirche und daher auch gegen ihre Glaubensvorgaben eingesetzt werden können“.[7] Folglich müssen, so das Bistum weiter, katholische Kirchensteuerbezahler zukünftig damit rechnen, dass ihre Finanzmittel im Einklang mit staatlichem Recht für kirchenferne oder kirchenfeindliche Aktivitäten eingesetzt werden.[8]

Nach Abwägung aller Gesichtspunkte kommt das Bundesgericht zum Schluss, dass die Religionsfreiheit nicht verletzt sei, auch deshalb nicht, weil weder die römisch-katholische Kirche noch ihre Gläubigen durch die Tätigkeit von „adebar“ im Leben oder in der Verbreitung ihrer Glaubensüberzeugungen behindert würden.[9] Somit wurde die Beschwerde des Bistums Chur durch das Bundesgericht abgewiesen mit der Folge, dass auch die Kosten des Verfahrens vom Bistum Chur zu bezahlen sind.

Austritt aus der Landeskirche

Der eingangs beschriebene Dualismus hat zur Folge, dass es personelle Überschneidungen gibt, wonach katholisch Gläubige sowohl der Weltkirche als auch der Landeskirche angehören. Das Bundesgericht hält auch im vorliegenden Urteil erneut fest – und bestätigt seine bisherige Rechtsprechung[10] – , dass ein einzelner katholischer Gläubiger aus der Landeskirche austreten, aber gleichzeitig als Mitglied in der römisch-katholischen Weltkirche verbleiben kann.[11] Leider hat sich diese Option unter Katholiken aber noch nicht herumgesprochen. Während das Bistum Chur diesem Weg bisher (unter Bischof Vitus Huonder) offen gegenüberstand, wird er von den Bistümern Basel und St. Gallen lediglich geduldet, jedoch nicht gerne gesehen. Wieso diese beiden Diözesen das bestehende Staatkirchensystem stützten, ist eigentlich ein Widerspruch, wenn man bedenkt, wie vieles von dem, was mit Kirchensteuergeldern finanziert wird, das Prädikat „katholisch“ nicht verdient. Der Fall „adebar“ ist nämlich kein Einzelfall. Für die Schwangerenberatungsstelle „elbe“ in der Zentralschweiz beispielsweise stellen sich ganz ähnliche Fragen.

Fazit

Nicht überall, wo katholisch draufsteht, ist auch katholisch drin. So lapidar kann man den wesentlichen Kern dieses Bundesgerichtsurteils auf den Punkt bringen. Oder mit anderen Worten: Die Landeskirche ist ein vom Staat geschaffenes Gebilde, das eigenen Zielen und Agenden folgen kann und gleichzeitig in der Öffentlichkeit weiterhin den Namen „katholisch“ tragen darf. Dass es sich hier um einen Missbrauch des Wortes „katholisch“ handelt und die römisch-katholische Kirche hier machtlos zusehen muss, wie Kirchensteuergelder für kirchenferne bzw. kirchenfeindliche Aktivitäten verwendet werden, dies hat das Bundesgerichtsurteil schonungslos zutage gefördert.[12]

Was dieses Bundesgerichtsurteil zudem erneut verdeutlichte, ist die Widersprüchlichkeit und die unbefriedigende Situation im Bereich der schweizerischen Staatskirchenstruktur, eines Modells, das dringenden Reformbedarf im bestverstandenen Sinne aufweist. Angesichts dieser offenkundigen Missstände ist es nachvollziehbar und verständlich, wenn gläubige Katholiken aus der römisch-katholischen Landeskirche austreten.

————————————

[1] Hierzu BGE 2C_955/2016, 2C_190/2018 vom 17. Dezember 2018.

[2] BGE 134 I 75, E. 5.

[3] Medienmitteilung des Bistums Chur vom 30. Januar 2019, www.bistum-chur.ch, Zugriff am 27.3.2019.

[4] Die neo-emanzipatorische Sexualpädagogik basiert in ihrem Kerngehalt auf der sexuellen Revolution der 68er-Bewegung und hat sich mittlerweile in der Schweizer Bildungslandschaft durchgesetzt. Sie wird an den meisten Schulen unterrichtet, sehr oft durch sog. externe „Experten“. Wesentlicher Inhalt dieser Sexualpädagogik ist das Gutheissen von sexuellen Erfahrungen bereits ab dem Jugendalter, solange der Geschlechtsverkehr auf der Zustimmung beider Sexualpartner beruht (sog. Verhandlungsmoral).

[5] Medienmitteilung, a.a.O.

[6] BGE, a.a.O., E. 5.3.; Medienmitteilung, a.a.O.

[7] Medienmitteilung, a.a.O.

[8] Medienmitteilung, a.a.O.

[9] BGE, a.a.O., E. 5.3.

[10] BGE 134 I 75, E. 6 und 7.

[11] BGE 2C_955/2016, 2C_190/2018 vom 17. Dezember 2018, E. 5.4.3.

[12] Medienmitteilung, a.a.O.