Eine Psychologin, die während zweier Jahre ihren Körper verkaufte, stellt die Pseudonormalität von käuflichem Sex in Frage. Sie weiss aus Erfahrung, welche Zerstörung Prostitution und Pornografie in Männern und Frauen anrichtet.
Von Dominik Lusser
Sexualpädagogische Lehrmittel wie der Comic „Hotnights“ (Sexuelle Gesundheit Schweiz, 2012) vermitteln die Ansicht, Sex könne – losgelöst von Liebe und Beziehung – auch lediglich als Lustgenerator genutzt werden. Jedem nach seinem Geschmack, lautet der Tenor der sexuellen Vielfalt. Konsequenterweise gehen staatlich geförderte Informationsplattformen für Jugendliche wie feel-ok.ch so weit, sogar die Prostitution als normalen Ausdruck menschlichen Sexualverhaltens darzustellen. Wenn Sex nichts mit Liebe und Beziehung zu tun haben muss, wie die Mainstream-Sexualpädagogik unsere Jugend glauben machen will, dann ist prinzipiell auch nichts dagegen einzuwenden, den eigenen Körper gegen Geld zum sexuellen Gebraucht anzubieten. Oder doch?
Seelenlos, unpersönlich, austauschbar
Dass menschliche Sexualität, objektiv betrachtet, nicht dazu gedacht ist, von der Psyche des Menschen losgelöst zu funktionieren, zeigt das Lebenszeugnis der ehemaligen Prostituierten Anna Schreiber. Als junge Mutter verkaufte sie während zweier Jahre ihren Körper. Gut 30 Jahre später veröffentlicht sie nun ihr Buch „Körper sucht Seele“ (2018). Das Herausragende dieser Publikation ist die Doppelperspektive. Schreiber kennt sowohl die Seite der Betroffenen, als auch die der Psychotherapeutin. Ihr Anliegen besteht darin „ein tieferes Verständnis der Prostitution zu ermöglichen und klarzumachen, warum es unter keinen Umständen in Ordnung ist, dass eine Person zum Objekt degradiert und zur Benutzung freigegeben wird.“ So die deutlichen Worte der Psychotherapeutin, die 2008 in Karlsruhe eine Praxis eröffnet hat, im Interview mit Mathias Morgenthaler (beruf-berufung.ch).
Schreiber hat viele Jahre gebraucht, um ihre Erfahrungen als „Sexarbeiterin“ zu verarbeiten. Über unsere Gesellschaft, die Prostitution verharmlost, sagt sie: „Es macht mich wütend, wie in den Medien darüber berichtet wird. Oft lautet der Tenor: Solange die Prostituierten diese Arbeit freiwillig machen und gut versichert sind, ist alles in Ordnung.“ Man könne Bordelle sogar online nach Sauberkeit und Anzahl der Parkplätze bewerten; es gebe Gütesiegel, die sogenannte Edelbordelle auszeichneten. Diese „Pseudonormalisierung der Prostitution“ führt Schreiber zufolge dazu, „dass das Leid negiert wird oder viel leichter ausgeblendet werden kann. Und so geht vergessen, wie brutal es ist, einen anderen Körper für die eigene sexuelle Befriedigung zu benutzen, lieblos, seelenlos, völlig unpersönlich und austauschbar.“
Abgespalten vom eigenen Ich
Die Verharmlosung der Prostitution, „um sich das Drama dahinter vom Hals – besser gesagt: vom Herz – zu halten“ kennt laut Schreiber zwei Formen: „Die eine besteht darin, Prostituierte abzuwerten als Schlampen, Nutten, Huren, kurz: als minderwertige Menschen; die andere gipfelt in der Annahme, Prostituierte seien Frauen, die dauernd Sex wollen und damit nebenbei auch noch gut verdienen.“ Die Realität sehe jedoch völlig anders aus, so Schreiber. „Der grösste Teil ist Zwangsprostitution und betrifft Frauen, die von Banden verschleppt und dazu genötigt wurden. Sie leben wie Sklavinnen, auch wenn das natürlich keine ihren Freiern so erzählt.“
Zur Figur der sogenannt selbstbestimmten Prostituierten findet Schreiber ebenfalls klare Worte: „Auch ich habe mir selbst die Geschichte verkauft, es sei ein Zeichen von Stärke, Unangepasstheit, Emanzipation, in hohen Stiefeln und knappen Kleidern Männer zu empfangen“, berichtet Schreiber. Sie habe selbst geglaubt, das zu wollen, was sie getan habe, weil das „ich schon abgespalten war von meinen Gefühlen und meiner Körperwahrnehmung“. Die junge Mutter spürte die Verletzungen und die Wunden gar nicht mehr und verstand noch gar nicht wirklich, was sie tat: „Ich sah nur, dass mein Handeln funktionell war, weil es Geld einbrachte und dafür sorgte, dass ich gesehen wurde von meinem Mann, von anderen Männern. (…) Meine Psyche spaltete das Falsch-Gefühl ab, ebenso wie all den Ekel und Schmerz während der Prostitution – Fachleute nennen das Dissoziation. So machte ich mich passend, war aber völlig getrennt von meinem inneren Erleben.“
Mythos und Inszenierung
Laut Schreibers Erfahrung gibt es für die Prostitution drei grundlegende Bedingungen: zum einen den materiellen Aspekt, zumeist massive Geldnot; daneben jedoch in der Regel auch die persönliche Vorgeschichte, die häufig durch sexualisierte Gewalterfahrungen in der Kindheit, emotionale Vernachlässigung oder Bindungsstörungen geprägt ist. Als dritten Faktor nennt die Psychologin das Gegenwartssystem, „zum Beispiel ein Partner, der die Prostitution einfordert oder zumindest nicht verhindert.“ Die Frau jedoch, die sich einfach so, aus Lust und Laune heraus, prostituiere, gebe es nicht. Sie sei ein Mythos. „Heute opfern sich viele Frauen für ihr Gegenwartssystem. Sie verkaufen ihren Körper, damit ihre Kinder oder ihre Familien in einem anderen Land nicht verhungern. Das ist eine humanitäre Katastrophe.“
Auch bei Schreiber selbst kamen alle drei Bedingungen zusammen. „Durch die frühen Missbrauchserfahrungen hatte ich gelernt, mein körperliches und emotionales Erleben auszuschalten und meinen Körper zu funktionalisieren. Zudem hatte ich ein sehr feines Gespür entwickelt, was mein Gegenüber will – um Gefahren einschätzen zu können.“ Dieses Gespür sei die Geschäftsgrundlage für die Arbeit als Prostituierte. „Die Prostituierte richtet sich komplett nach den Bedürfnissen des Freiers, mimt mal die draufgängerische Verführerin, mal die Schüchterne, die erobert werden will.“ Für diese Anpassungskunst erhalte sie ihr Geld. Je perfekter sie inszeniere, desto mehr Geld könne sie verlangen.
Nicht weniger als die Pseudonormalisierung der Prostitution beklagt Schreiber auch die Normalisierung der Pornografie: „Das ist in aller Regel Prostitution vor der Kamera“, sagt sie gegenüber Radio SWR2. „Die Pornografie-Internetsucht ist katastrophal verheerend und es wird erst ganz beginnend wahrgenommen, welche schweren Ausmasse das hat, weil die Männer mit niemandem darüber sprechen.“ Im Gegensatz zu Schreibers Warnung hört sich das, was Jugendliche auf der Plattform mit dem trügerischen Namen feel-ok.ch lesen, eher an wie ein Slogan der Pornoindustrie: „Weil Pornos vorwiegend sexuelle Fantasien abbilden und nur dazu dienen, die Zuschauer/-innen zu erregen, können sie mit der Realität nicht mithalten. Viele Jugendliche wissen dies und können zwischen Pornos und realem Sex unterscheiden. Deswegen sind negative Auswirkungen als Folge des Pornokonsums selten.“ Schreiber hingegen berichtet aus ihrer therapeutischen Praxis, dass Männer oft gar nicht wissen, dass ihre Probleme mit der Sexualität vom Pornokonsum herrühren: Es geht beispielsweise um Orgasmus- oder Erektionsstörungen, aber auch um pornografisch konditionierte Erregungsmuster, die verunmöglichen, dass Betroffene mit der Frau, die sie lieben, in der Realität Sexualität leben können.
Liebe macht den Unterschied
„Männer machen Prostituierte“, schreibt die Psychotherapeutin in ihrem Buch. Doch damit will sie – wie im Interview mit Morgenthaler deutlich wird – nicht die Männer abwerten. Vielmehr sei es, so Schreiber, wichtig, auch deren Not besser zu verstehen. Für die Autorin ist klar: „Ein Mann, der um seine eigene männliche Würde weiss und um die Würde der Frau, will keinen Sex gegen Geld.“
Was Schreiber selbst aus der Prostitution befreit hat, war – in einem ersten Schritt – „eine Liebesbegegnung“. Ich war ganz unten angekommen, verachtete die Welt, die Männer, mich selber. Und erlebte in diesem Moment, welche Kraft eine Begegnung in Liebe haben kann. Ich spürte wieder Lebendigkeit und entschloss, nie wieder Geld für Sex zu nehmen.“ Diese Begegnung sei für sie wie eine Initiation gewesen, die sie wieder mit ihrer weiblichen Achtung verbunden habe. Heute sagt die mittlerweile 58-Jährige von sich, dass sie durch den Schmerz gelernt hat, sich selbst und das Leben tiefer zu verstehen. „Durch meine Erfahrungen und durch die vielen Jahre meiner psychotherapeutischen Arbeit habe ich viel gelernt über die Liebe. Ich habe grosse Ehrfurcht vor unserer Liebesfähigkeit und bin dankbar, dass ich heute Menschen helfen darf, ihre eigene Wahrheit wieder zu finden.“