Geht es nach dem Entwurf des Lehrplans 21, soll die christliche Religion und Kultur keinen Vorrang mehr haben vor anderen Religionen. Der Lehrplan schlägt eine vergleichende Religionskunde vor und berücksichtigt so zwar die religiöse Vielfalt in der Schweiz. „Doch keine einzige Kompetenz bezieht sich“, wie die EVP (Evangelische Volkspartei) in ihrer Konsultationsantwort bemängelt, „explizit auf die Überlieferungen der christlichen oder jüdisch-christlichen Tradition.“ Damit wird die geistesgeschichtliche und kulturelle Prägung der Schweiz durch das Christentum missachtet. Die EVP fordert darum zu Recht, das sogenannte Zürcher Modell im neuen Lehrplan zu berücksichtigen und „Kompetenzen mit exemplarischen Inhalten der jüdisch-christlichen Überlieferung sowie den christlichen Feiertagen“ aufzunehmen.
Wie ein Blick in das neue Zürcher Lehrmittel „Blickpunkt – Kultur und Religion“ zeigt, hängt die Tauglichkeit der schulischen Religionskunde aber nicht nur davon ab, wie viel Raum dem Christentum als der kulturprägenden Religion zugestanden wird. Die Art und Weise der Darstellung des Christentums bzw. der anderen Religionen ist mindestens ebenso entscheidend.
Mit der Art und Weise eng verbunden ist die Frage nach dem Wozu der schulischen Religionskunde. Soll sie primär objektives Wissen vermitteln und dabei auch heiklen Fragen nicht ausweichen? Oder steht sie ausschliesslich im Dienste der „politischen Korrektheit“ und der Erziehung zum „toleranten“ Bürger, was meiner Meinung nach dem Anliegen, die Integration zu fördern, hinderlich ist? Bezüglich dieser Fragen sind beim „Blickpunkt“ grössere Bedenken angebracht. Und das, obwohl sich die ersten beiden Bände des Lehrmittels für Unter- und Mittelstufe entsprechend dem Zürcher Modell am Christentum als inhaltlichen Schwerpunkt orientieren, und erst der dritte Band für die Sekundarstufe I jeder der fünf grossen Weltreligionen exakt 26 Seiten widmet.
Ohne Anspruch darauf zu wissen, wie genau die Schulische Religionskunde der Zukunft – ein zugegebenermassen schwieriges und konfliktgeladenes Thema – auszusehen hätte, sollen am Beispiel des dritten Bandes von „Blickpunkt“ nach dem Ausschlussverfahren drei Fehler aufgezeigt werden, die – mit oder ohne Lehrplan 21 – in künftigen Lehrmitteln auf jeden Fall vermieden werden sollten.
Relativierung des Christentums!
„Blickpunkt“ bemüht sich, auch wenn dies unausgesprochen bleibt, offensichtlich um die Konstruktion eines säkularen Wertekanons, den angeblich die Mitglieder aller in der Schweiz anwesenden Religionen sowie Atheisten miteinander teilen. Dieser soll als tragfähiges Fundament der Gesellschaft genügen. Die einzelnen Religionen erscheinen so – ganz im Sinne von Lessings „Ringparabel” – nur noch als subjektive und selbstverständlich gleichwertige Spielarten, wie Religiosität gelebt werden kann.
So werden problematische Inhalte fremder Religionen, die nicht in dieses Schema passen, ausgeblendet. Die bleibende Abhängigkeit der europäischen Kultur vom Christentum wird bestritten. Und um den Heimvorteil des Christentums im Klassenzimmer von vornherein zu brechen, wird bei jeder Gelegenheit auf die im Namen des Kreuzes begangenen Gewalttaten aufmerksam gemacht und das Klischee der angeblichen Wissenschaftsfeindlichkeit des Christentums beschworen, während die anderen Religionen – inklusive Islam – geradezu mit Samthandschuhen angefasst werden.
Die vom Christentum geprägte Kultur der Menschenwürde und Solidarität ist, so heisst es im „Blickpunkt“, zusammen mit den aufklärerischen Werten von Freiheit und Vernunft zur Grundlage der schweizerischen Gesellschaft geworden. Doch seien diese vier Werte „auch ohne die religiös-christliche Begründung“ gültig. Der Beitrag des Christentums zur humanistischen Kultur Europas wird bewusst zur Historie und somit für abgeschlossen erklärt, als ob jeder andere weltanschauliche Hintergrund inklusive Atheismus ebenso geeignet wäre, diesen Werten ein bleibendes Fundament zu verleihen.
Tatsache aber ist, dass beispielsweise die unveräusserliche Menschwürde nur durch den Glauben an den biblischen Schöpfergott aufrechterhalten werden kann. Dies zeigt sich etwa darin, dass das Lebensrecht der Ungeborenen heute praktisch nur noch von gläubigen Christen eingefordert wird. So aber wird gleichzeitig deutlich, dass der christliche Glaube nicht ein Hindernis, sondern ein sinnvolle Ergänzung zur menschlichen Vernunft darstellt. Denn auch die moderne, säkulare Schweiz mit ihren Werten wie bürgerliche Freiheit, Wohlstand und Demokratie lebt von ihren spezifisch christlichen Wurzeln her, die sie nicht selber garantieren kann. Darum wäre es nichts als richtig, wenn das Christentum im Schulunterricht als unverzichtbare Stütze und Garant der Menschenwürde oder auch – in Zeiten postmoderner Verwirrungen und Verirrungen (Stichwort: Gender-Ideologie) – als Stimme des gesunden Menschenverstands ins Gespräch gebracht würde.
Vergleichende Religionskunde nach Zürcher Art
Spätestens der Vergleich, wie unterschiedlich der „Blickpunkt“ Islam und Christentum darstellt, zeigt deutlich, dass das Zürcher Lehrmittel nicht primär der Vermittlung objektiven Wissens verpflichtet ist. An mindestens vier Stellen ist von „Ausgrenzung und Verfolgung Andersgläubiger“ oder von „Ausbreitung mit Gewalt“ durch das Christentum die Rede, wobei das Beispiel der „blutigen Kreuzzüge“ erst noch falsch ist. Die Kreuzzüge waren zum Schutz der christlichen Pilger im Heiligen Land gedacht und entarteten teilweise, wo die Kreuzritter ihre materiellen Interessen in den Vordergrund stellten. Eine Ausbreitung des Glaubens mit dem Schwert aber waren die Kreuzzüge nicht.
Wenn sich eine Religion, und zwar nicht bloss zufällig, sondern im Einklang mit ihrer Gründungsintention, mit Gewalt ausgebreitet hat, dann ist das der Islam. Doch dazu schweigt das Lehrmittel gänzlich. Es ist lediglich von der „schnellen Ausbreitung“ des Islam die Rede. Mohammeds Dienst als Heerführer wird als Friedensmission dargestellt. Und solche, die den Dschihad mit Waffengewalt verstehen, werden der kleinen Minderheit der „radikalen Muslime“ zugerechnet. Diese Darstellung ist aber weit von den Tatsachen entfernt, zumal bis heute auch Rechtsgelehrte der Kairoer Universität Al Azhar – der renommiertesten Bildungsstätte des schiitischen Islams – in aller Selbstverständlichkeit den gewaltsamen Dschihad „inklusive dem Brechen der Wirbelsäule der Ungläubigen“ zur Pflicht der Moslems erklären.
Das islamische Recht der Scharia, heute mehr denn je Ursache von Gewalt gegen Frauen und Andersdenkende, ist – so eine weitere unzulässige Behauptung – „kein Buch mit festgelegten Gesetzen, sondern der Weg, wie ein Richter von den islamischen Quellen zu einem Gutachten oder Urteil gelangt.“ Die Rechtsgelehrten hätten dabei die Möglichkeit, sich eine eigene Meinung zu bilden und das Urteil oder den Ratschlag der Situation anzupassen. Schliesslich gälten diese Urteile nur als Orientierung, da sich alle Moslems ihre eigene Meinung bilden könnten.
Das islamische Recht wird also dargestellt als Inbegriff der Anpassungsfähigkeit und Garant autonomer Selbstbestimmung, was geradezu eine Verhöhnung der Opfer darstellt, die die Scharia täglich fordert. Unterschlagen wird dabei vor allem die im Islam selbstverständliche unauflösbare Verbindung von Kultur, Politik und Religion, die im „Blickpunkt“ zwar kurz erwähnt, aber nicht weiter vertieft wird. Diese Verflechtung aber bedeutet im Klartext, dass die Gesetze des Islam – wenn immer möglich – zum Staatsgesetzt gemacht werden und folglich nicht nur von Moslems, sondern von allen Bürgern zwingend befolgt werden müssen.
Demgegenüber wird unterschlagen, dass die Trennung von Kirche und Staat genauso wie die relative Autonomie weltlicher Kultur und Wissenschaft bereits in den Grundlagen der christlichen Religion angelegt sind und dass die Säkularisation ein Prozess ist, den die Kirche selbst mit vorangetrieben hat, und zwar nicht erst zur Zeit der Aufklärung, sondern spätestens seit dem Mittelalter.
Polit-Propaganda!
Besonders anstössig ist es, wenn ein staatliches Lehrmittel zur politischen Propaganda missbraucht wird. Die Anschläge auf das World Trade Center von 2001 haben, so der „Blickpunkt“, in der Schweizer Politik zu heftigen Diskussionen über die Frage geführt, ob sich Muslime wirklich in die Gesellschaft integrieren wollen oder können. Dabei seien Vorurteile gegenüber Moslems von politisch konservativen Kreisen ausgenützt worden. „Sie lancierten eine Initiative für ein Bauverbot von Minaretten, und 2009 stimmte die Schweizer Bevölkerung dieser Initiative überraschend zu.“
Was nicht ins eingangs erwähnte Schema passt, wonach alle Weltreligion lediglich subjektive Ausdrucksformen des einen, angeblich rein säkularen „Welt-Ethos“ sind, wird also einfach unterschlagen. Abgesehen davon, dass eine solche Darstellung sowohl die historische wie die aktuelle Wirklichkeit völlig verzerrt widergibt und somit dem Anspruch an den Schulunterricht, objektives Wissen zu vermitteln, nicht genügt, ist diese Art der Religionskunde auch der Integration von Schülern aus anderen religiösen Traditionen alles andere als förderlich.
Auf der einen Seite werden nämlich die nicht-zufälligerweise christlichen Wurzeln, aus denen die Schweizer Gegenwart entstanden und von denen sie bleibend abhängig ist, zum grossen Teil geleugnet. Anderseits verbaut man Schüler nicht-christlicher Herkunft die einmalige Möglichkeit, sich in vernünftig-kritischer – also echt abendländischer – Weise mit ihrer eigenen Tradition auseinanderzusetzen. Dass man heute, einem vordergründigen und billigen Frieden zuliebe, einfach vertuscht, dass nicht alle religiösen Phänomene, Gebräuche und Regeln gleich vernünftig, geschweige denn mit der abendländischen Zivilisation verträglich sind, wird sich früher oder später auf sehr unangenehme Art und Weise rächen.
Von Dominik Lusser