Seit dem Urteil der „KlimaSeniorinnen gegen die Schweiz“ im April 2024 steht der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in der Kritik. Dies ist nicht das erste Mal, dass sich Unmut über Entscheidungen aus Strassburg regt. Und dies zu Recht. Die Frage stellt sich, welche Konsequenzen die Schweiz daraus zieht. Politiker der Mitte-Partei haben bereits eine Motion eingereicht zur Kündigung der Mitgliedschaft der Schweiz in der EMRK.

Ein Kommentar von Ralph Studer

 Nach dem Urteil „KlimaSeniorinnen gegen die Schweiz“ gingen die politischen Wogen in der Schweiz hoch. National– und Ständerat kritisierten das Klima-Urteil des EGMR in der Erklärung „Effektiver Grundrechtsschutz durch internationale Gerichte statt gerichtlicher Aktivismus“. Beide Kammern waren sich einig, dass dem Urteil des EGMR keine Folge zu leisten ist. Der Gerichtshof habe mit dem Urteil die Grenzen der zulässigen Rechtsfortentwicklung überschritten und die demokratischen Entscheidungsprozesse der Schweiz missachtet, so die Hauptargumente. Nun ist der Bundesrat gefordert: Er muss diese Erklärung in den Europarat tragen.

Petition fordert Austritt aus Europarat

Als Reaktion auf dieses Urteil lancierte die Organisation „PatriotPetition“ die Petition „Schluss mit fremden Richtern – Europarat-Austritt jetzt“ an den Bundesrat, die sie anfangs Juni 2024 bei der Bundeskanzlei in Bern einreichte. Politisch motivierte Urteile des EGMR wie das am 9. April 2024 ergangene Klima-Urteil gegen die Schweiz stelle eine Bedrohung für die Schweizer Souveränität und Rechtsstaatlichkeit dar. Der Austritt aus dem Europarat sei deshalb die logische Konsequenz.

In seinem Antwortschreiben hält das Bundesamts für Justiz hierzu fest, dass der Bundesrat eine Kündigung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und damit einhergehend einen Austritt der Schweiz aus dem Europarat stets ablehnte. Nicht zuletzt aus einer historischen Perspektive sei die Konvention ein wichtiger Fortschritt zum Schutz des Rechtsstaates und der Menschenrechte.

Diese Einschätzung mag für die Folgejahre nach Inkrafttreten der EMRK im Jahre 1953 zutreffen, als sie eine Reaktion auf die Gräuel und Menschenverachtung des Kommunismus und Nationalsozialismus war und einheitliche Standards zum Schutz der Einzelrechte des Bürgers festlegte und durchsetzte.

Seit Jahren in der Kritik

Heute ist die Situation eine andere. Der EGMR steht seit Jahren in der Kritik eine aktivistische Rechtsprechung zu betreiben, die weit über einen vernünftigen Menschenrechtsschutz hinausgeht, und laufend „progressive“ Anliegen durchsetzt. Das aktuelle Klima-Urteil spricht Bände. „Es kann nicht sein“, wie die NZZ-Journalistin Katharina Fontana schreibt, „dass Klimaaktivisten zusammen mit der Justiz die demokratische Debatte ausschalten wollen. In der Schweiz machen Parlament und Volk die Klimapolitik und nicht eine Gruppe von Richtern.“

Eine Auslegung der EMRK ist unbestritten notwendig, aber das Hineininterpretieren von neuen Konzepten wie dem Klimaschutz überschreitet die Kompetenzen der Richter. Damit setzt sich der Gerichtshof über die Souveränität der Mitgliedstaaten hinweg. Heute ist es der Klimaschutz, welche Themen sind es morgen? Globale Gesundheit? Globale Sicherheit? Solche Urteile schaden nicht nur dem EGMR, sondern diskreditieren vor allem auch die Menschenrechte selbst.

Ursprünglich als Abwehrrechte gegenüber dem Staat gedacht, sieht der EGMR die Konvention als „lebendiges Instrument“, das er weiterentwickelt und seit geraumer Zeit laufend neue Ansprüche daraus ableitet. Es geht um Rechtsfortbildung für ganz Europa. Eine übergeordnete Instanz gibt es nicht und somit fehlt ein Korrektiv gegen solche Urteile. Dabei ist klar in Erinnerung zu rufen, dass der EGMR weder eine politische Rolle innehat noch die Funktion eines Gesetzgebers ausübt. Ganz im Gegenteil. Er hat die Aufgabe, Recht zu sprechen.

Die progressive Rechtsprechung des EGMR

Seit Längerem zeigt die Rechtsprechung des EGMR bei Asyl- und Migrationsfragen und vor allem im Bereich Geschlecht, Familie und Gesellschaft in eine progressive Richtung. Dr. Grégor Puppinck, Direktor des „European Center für Law and Justice“, sagt es deutlich: „Seit den 1980er-Jahren wurde das Geschlecht zunächst einmal durch den Begriff der sexuellen Orientierung subjektiviert, die später als ein tiefer Bestandteil der Identität jedes Menschen, die Heterosexualität, Homosexualität und Bisexualität umfasst, definiert wurde. (…) Dieser Begriff [sexuelle Orientierung] erlaubt es, das natürliche Geschlecht von dem Gebrauch, den man davon macht, gedanklich zu trennen, ihm damit jeden natürlichen Charakter zu bestreiten, die physischen Unterschiede zwischen verschiedenen Formen der sexuellen Betätigung zu relativieren und sie somit alle als moralisch gleichwertig hinzustellen.“

Nunmehr sind nicht mehr natürliche Gegebenheiten (dass z.B. der Mann von seiner Natur auf Ergänzung zur Frau angelegt und von dieser deshalb angezogen ist), sondern das sexuelle Verhalten des Menschen, sein Wille entscheidet, losgelöst von Körper und Natur.

Tür und Tor offen

Der EGMR ging noch einen radikaleren Schritt weiter und stellte die geschlechtliche Identität in Gegensatz zum Geschlecht, indem er sich nicht davon überzeugt zeigte, das Geschlecht einer Person anhand biologischer Merkmale zu bestimmen. In der Folge anerkannte er „(…) die Freiheit (…) seine sexuelle Zugehörigkeit zu definieren, die sich als eines der wesentlichsten Elemente aus dem Recht auf Selbstbestimmung ergibt.“ So stand nun Tür und Tor offen, sein „Geschlecht“ und seine „sexuelle Identität“ selbst zu wählen.

Dadurch zwang der EGMR auch die Mitgliedstaaten, bei Personen, die sich einer chirurgischen Geschlechtsumwandlung unterzogen hatten, dieses neue Geschlecht im Personenstandswesen rechtlich anzuerkennen. Während der EGMR früher noch eine „irreversible Änderung der Erscheinung“ für eine rechtliche Anerkennung der Geschlechtsänderung verlangte, braucht es dies nach der aktualisierten Rechtsprechung des EGMR nicht mehr. Auch hier zeigt sich der Vorrang des individuellen Willens vor der physischen und sozialen Wirklichkeit. Der Wille sagt, was gilt.

EGMR: neue Rechte schiessen aus dem Boden

Das Geschlecht bildet nach der Rechtsprechung des EGMR kein materielles Merkmal des menschlichen Körpers mehr. Statt die Natur und die biologische Wirklichkeit des Menschen anzuerkennen, steht der EGMR faktisch auf dem Boden der „Gender-Ideologie“. Basierend auf neuen Begrifflichkeiten wie soziales Geschlecht, sexuelle Orientierung und sexuelle Identität, die im Gegensatz zur menschlichen Natur eine zweite Wirklichkeit schaffen, hat der EGMR neue Rechte aus dem Boden gestampft und das Geschlecht dem subjektiven Willen des Menschen zugewiesen.

Welche Folgen resultieren daraus? Die Auflösung der binären Geschlechterordnung und der natürlichen Ehe und Familie und letztlich eine Neuordnung der Rechts- und Gesellschaftsordnung. Konsequenterweise werden auch Verwandtschaftsbeziehungen und allgemein die Abstammungsverhältnisse nicht mehr auf der Ehe basieren. Es wird alles völlig neu gemischt. Auch hier wird die Selbstbestimmung verabsolutiert.

Folgen für die Schweiz

Diese dynamische und expansive Rechtsprechung des EGMR hat fatale Folgen auch für die Schweiz. Diese Erweiterung der (sexuellen) Rechte, die von den Mitgliedstaaten bei der Verabschiedung überhaupt nicht vorgesehen waren, führen faktisch zu einer Verfassungsänderung in der Schweiz, da die Freiheitsrechte der Bundesverfassung und EMRK praktisch deckungsgleich sind und das Bundesgericht bemüht ist, diese in Einklang zu bringen und sich an die EGMR-Rechtsprechung zu halten.

So schlägt die Rechtsprechung des EGMR auf unsere Verfassung durch und ändert diese, ohne dass Volk und Stände mitreden können. Der EGMR und mit ihm das Schweizer Bundesgericht amtieren so faktisch als (nationale) Verfassungsgeber. Sie untergraben die rechtsstaatlichen Vorgaben, indem die Richter als Gesetzgeber fungieren und so die Gewaltenteilung massiv verletzen.

Unparteilichkeit der EGMR-Richter?

Doch das ist noch nicht alles. Kritische Experten wie Puppinck stellen in den zwischen 2009 und 2019 gefällten Urteilen eine zunehmend ideologische Färbung fest. Stossend ist dabei unter anderem die Verbandelung mit Nichtregierungsorganisationen (NGO), die eine politische Agenda vorantreiben. Nicht weniger als 22 der 100 der zwischen 2009 und 2019 am EGMR tätigen Richter hatten vor ihrem Amtsantritt für NGOs gearbeitet, die wiederholt Klagen am EGMR eingereicht haben. Zwölf Richter standen in Verbindung zu Soros „Offener Gesellschaft“ (Open Society), andere zu „Amnesty International“, „Human Right Watch“ oder zum „Helsinki-Komitee“. Während des untersuchten Zeitraums hätten diese Richter an fast 90 Verfahren teilgenommen, in denen „ihre“ NGO involviert gewesen ist.

„Die massive Präsenz von Richtern, die aus demselben NGO-Netzwerk stammen, spiegelt den Einfluss grosser Stiftungen und privater NGO auf das europäische System des Menschenrechtsschutzes wider“, so Puppinck. Das stelle nicht nur die Unabhängigkeit des Gerichtshofs infrage, sondern auch die Unparteilichkeit seiner Richter.

Motion fordert Kündigung der EMRK

Angesichts dieser Umstände ist es nicht verwunderlich, dass Politiker aus der Partei „Die Mitte“ im April 2024 eine Motion einreichten, in der sie den Bundesrat beauftragen, die Mitgliedschaft der Schweiz in der EMRK zu kündigen. Der Einmischung der EGMR-Richter in unsere direktdemokratischen Prozesse ist ein Ende zu setzen, so die Motionäre. Die Schweiz könne die verfassungsmässig garantierten Menschenrechte auch ohne Mitgliedschaft in der EMRK hinreichend schützen.

Wie weiter?

Der EGMR hat es in den letzten Jahren trotz vehementer Kritik verpasst, das verlorene Vertrauen wieder zurückzugewinnen. Das aktuelle Klima-Urteil zeigt die ausufernde Rechtsprechung des EGMR deutlich: Allein die Interpretation der Richter führte zur Verurteilung der Schweiz, obwohl in der EMRK nichts erwähnt ist, dass ein Staat das Recht auf Privatleben älterer Frauen verletzt, wenn er (angeblich) zu wenig für das Klima tut.

Mit diesem Urteil hat der EGMR erneut bekräftigt, dass er nicht gewillt ist, sich seinem eigentlichen Auftrag zu widmen, nämlich schwere Menschenrechtsverletzungen von Mitgliedstaaten des Europarates gegenüber einzelnen Menschen in ihrem Land zu ahnden und die EMKR als Abwehrrechte zu sehen.

Was kann die Schweiz tun? Die im Raum stehenden Möglichkeiten sind wenig erfolgversprechend: Es ist nicht davon auszugehen, dass sich der EGMR durch eine Beschwerde des Bundesrats beim Ministerkomitee des Europarats beeindrucken lässt und von seiner expansiven Rechtsprechung ablässt. Die jahrelange Kritik am EGRM war sichtlich fruchtlos. Nur noch Urteile umzusetzen, die sich im Rahmen der EMRK bewegen, ist ebenfalls kein tauglicher und praktikabler Modus und würde zu politischen Spannungen führen.

Aufgrund dessen ist es angebracht und im ureigenen Interesse der Schweiz, offen und kontrovers über die Frage nach einer Kündigung der EMKR und einem Austritt aus dem Europarat zu diskutieren. Dies umso mehr, als es um viel geht: um die Souveränität, die Rechtsstaatlichkeit und die Demokratie unseres Landes.

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