Nie zuvor hatte die Muslimbruderschaft eine solche Zersplitterung ihrer Führer wie jetzt. Die islamische Gruppe, deren Gründung auf dem Prinzip der Loyalität und des Gehorsams gegenüber ihrem allgemeinen Führer basiert, erlebt momentan die grösste Spaltung in ihrer Geschichte.
Von M. Hikmat
Insbesondere nach dem Tod des amtierenden Führers der Muslimbruderschaft Ibrahim Mounir am 4. November 2022 im Alter von 85 Jahren in London kämpfen die Verantwortlichen untereinander um die Kontrolle der Bewegung. Seit ihrer Gründung im Jahr 1928 hat die Gruppe bereits zwölf interne Krisen erlebt. Inzwischen hat sich die Organisation seit dem Sturz des Regimes des einstigen Präsidenten Mohammed Mursi nun in drei Kriegsfronten im Exil zwischen London und Ankara aufgeteilt. Dies stellt die grösste Herausforderung für die Extremistengruppe dar, die noch nie von mehreren Anführern gleichzeitig geleitet wurde.
Mehrere Führer
Der Grund für die aktuelle Krise der Muslimbrüder liegt im Übergang der ägyptischen Behörden von einer Politik der Beschwichtigung und Eindämmung zu einer Politik der Konfrontation. Zuvor noch geduldet bzw. sogar im Parlament beteiligt usw., sitzen viele der Muslimbrüder heute unter Präsident Abdel Fattah el-Sisi im Gefängnis. Er verbot die Muslimbruderschaft und schränkte alle Freiheiten der Moslembrüder ein.
Demzufolge haben sich die Muslimbrüder in drei Fronten gespalten. Die erste war vom verstorbenen Ibrahim Mounir angeführt und operierte von London aus. Jetzt ist Salah Abdel-Haq der Führer der Gruppe. Die zweite Gruppe wird in Istanbul von Mahmoud Hussein, dem ehemaligen Generalsekretär der Gruppe, angeführt. Diese lehnt das Amt von Salah Abdel-Haq in London ab. Die dritte Strömung ist eine neue Gruppe von Anführern aus der zweiten Reihe, die sich „Wandelbewegung“ oder die „von Kamal Abstammenden“ nennt. Die Kamalisten werden Muhammad Kamal zugeschrieben, einem der Theoretiker der Gewalt und des Zusammenstosses mit dem ägyptischen Staat nach dem Fall der Herrschaft der Muslimbruderschaft. 2018 gab das ägyptische Innenministerium den Tod von Kamal bekannt, als es versuchte, ihn zu verhaften. Die Strömung tritt nun zum ersten Mal in der Türkei öffentlich auf und will zurück zu den islamischen Wurzeln und entsprechend die Lehren des Muslimbrüdergründers Hassan al-Banna umsetzen. Alle drei Gruppierungen bzw. Fronten der Muslimbruderschaft befinden sich also ausserhalb Ägyptens, eine in Grossbritannien (London) und zwei in der Türkei (Istanbul).
Eine Zeitbombe?
Stunden vor dem Beginn der Konferenz der dritten Front der Bruderschaft, der Kamalisten, am 15. Oktober 2022 in einem Hotel in Istanbul, um ihren offiziellen Austritt aus der Organisation der Muslimbruderschaft bekannt zu geben, kam die Londoner Gruppe der Situation zuvor und veröffentlichte ein politisches Dokument, in dem sie ihren Rückzug aus jeglichem Kampf um die Macht in Ägypten erklärte und ihre Pläne für die nächste Etappe präzisierte. Sie kündigte an, dass das Ziel ihrer politischen Mission nicht nur darin bestehe, die Macht zu erlangen, sondern sich vielmehr mit dem zu befassen, was sie als „kritischen Moment“ in der Geschichte Ägyptens bezeichnet, und räumte ein, dass sie sich aus allen Machtkämpfen zurückziehen werde. Zudem gab die Gruppe bekannt, dass nun drei politische Prioritäten habe: eine Lösung für die inhaftierten Muslimbrüder in Ägypten zu finden, eine politische Versöhnung mit dem regierenden Regime unter Sisi zu erreichen und eine nationale Partnerschaft mit der Regierung aufzubauen.
Nachdem die Front in London den Rückzug von jedem Kampf um die Macht in Ägypten angekündigt hatte, erklärten die Kamalisten wenige Stunden darauf ihre Ablehnung dazu und kündigten ihre – ggf. auch gewalttätige – Opposition bezüglich Ägypten an. Sie erklärten klar ihre Position zum Kampf um die Macht in Ägypten und dass die Revolution eine strategische Wahl für die Bruderschaft sei. Zudem wurden einige ihrer Führer namentlich bekannt gegeben, nämlich Dr. Saif Abdel Fattah, Berater des ehemaligen ägyptischen Präsidenten Mohammed Mursi, und Mohammed Montaser, der damalige Mediensprecher der Moslembrüder.
Die Taqiyya
Es scheint, als ob die Londoner Gruppe eine neue Strategie zu entwickeln und ihre Zukunft neu zu überdenken versucht. Doch stellt sich vielmehr die Frage, ob nicht schlichtweg die Taktik der Taqiyya (Verschleierung der wahren Ziele durch Lüge) anwendet wird. Denn auch wenn sich die Gruppe als annähernd und moderater als zuvor gibt, so zeigt doch ihr Führer Salah Abdel-Haq, dass wohl auch eine andere Strategie verfolgt wird. Dieser ist überzeugt, dass der Einsatz von Zwang und Gewalt notwendig für den politischen Wandel in Ägypten ist. Beim letzten Aufruf der Londoner Front, landesweite Proteste am 11. November 2022 während der Klimakonferenz der Vereinten Nationen im ägyptischen Ferienort Sharm el-Sheikh zu organisieren, wurde jedoch der mangelnde Einflusses der Gruppe In Grossbritannien vor Ort klar – im Gegensatz zu ihrer Fähigkeit, effektiv über soziale Medien Mitglieder für Ägypten zu mobilisieren.
Die Rolle der Türkei
Welche Rolle die Türkei in der Entwicklung der Muslimbruderschaft spielt bzw. wie sich die türkisch-ägyptischen Beziehungen künftig entwickeln, hängt u.a. davon ab, inwieweit Erdogan bereit ist, die Muslimbruderschaft in der Türkei zu opfern und ihre Medienaktivitäten einzustellen. Viele Mitglieder der Muslimbrüder haben sich inzwischen in der Türkei niedergelassen und die türkische Staatsbürgerschaft erhalten. Sie gründen Institutionen, Schulen, Unternehmen und Netzwerke vor Ort. Auch die ihre Medienarbeit wird mit offizieller türkischer Genehmigung gemacht. Erdogan sagte einmal, er weigere sich, mit dem ägyptischen Präsidenten Sisi zu sprechen. Doch die Situation hat sich inzwischen geändert. Der Händedruck zwischen Erdogan und Sisi am Rande der Eröffnung der Fussballweltmeisterschaft in Katar war der erste direkte Kontakt zwischen den beiden.
Auch wenn derzeit vieles unklar scheint in der Entwicklung der Muslimbruderschaft: Klar ist, dass alle drei Fronten der Muslimbrüder Zeitbomben sind, die jederzeit explodieren können, selbst wenn sich einige Führungsstrukturen ändern und eine Gruppe in eine Phase der vorübergehenden Anpassung an die ägyptische Gesellschaft eintritt. Denn das ursprüngliche und bis heute geltende Ziel der Muslimbruderschaft ist klar: die Wiedererrichtung des Kalifats. Ihr Grundsatz lautet: „Der Prophet ist unser Führer. Der Koran ist unser Gesetz. Der Dschihad ist unser Weg. Auf Allahs Weg zu sterben, ist unsere höchste Hoffnung.“