Vitaly Vlasenko, Leiter der Evangelischen Allianz von Russland (REA), bedauert in einem offenen Brief den Krieg seiner Nation gegen die Ukraine. Er spricht darin von „tiefer Trauer und Bitterkeit“. Livenet.ch hat seinen offenen Brief, den er in diesen Tagen verfasst hat, übersetzt und publiziert. Am Tag vor dem Einmarsch der russischen Armee in die Ukraine schrieb Vlasenko einen offenen Brief an Präsident Wladimir Putin, in dem er die Bitte der religiösen Führer der Ukraine um eine friedliche Lösung des Konflikts unterstützte.
Der Generalsekretär der REA, Dr. Vitaly Vlasenko, drückt in einem offenen Brief vom 12. März sein „tiefes Mitgefühl“ mit denen, die an den Aktionen seiner Regierung in der Ukraine leiden, aus. Die Erklärung des profilierten christlichen Leiters benutzt nicht die von der russischen Regierung vorgesehene Bezeichnung „spezielle Militäroperation“, um die Gewalt in der Ukraine zu beschreiben. Er verwendet stattdessen die Worte „Konflikt“ und „Invasion“, vermeidet es aber, die Situation mit offiziell verbotenen Begriffen wie „Krieg“ zu beschreiben. Und neben der Anerkennung der ukrainischen Furcht vor einer „Besatzung“ verweist er auf Russlands Ziel der „Entmilitarisierung“. In Russland sind Strafen bis zu 15 Jahren Gefängnis für die Verbreitung von „Fake News“ möglich, die das Militär „diskreditieren“.
Der Brief
Livenet.ch hat den Brief von Vlasenko im Wortlaut aus dem Englischen übersetzt. Zum Originalbrief auf Englisch: https://worldea.org/wp-content/uploads/2022/03/GS-Letter-March-2022-EN.pdf
März 2022
An meine lieben Brüder und Schwestern in aller Welt:
Als Generalsekretär der Russischen Evangelischen Allianz trauere ich darüber, was mein Land mit seiner jüngsten militärischen Invasion eines anderen souveränen Landes, der Ukraine, getan hat.
Für mich, wie für viele andere Christen, war die militärische Invasion ein Schock. Auch im schlimmsten Fall hätte ich mir nicht vorstellen können, was jetzt in der Ukraine zu beobachten ist. Zwei eng miteinander verwandte Völker, von denen viele dem christlichen (vor allem orthodoxen) Glauben zutiefst zugetan sind, befinden sich nun in einem erbitterten Kampf – die eine Seite verfolgt das Ziel, die Ukraine zu entmilitarisieren, die andere versucht, ihr Land vor der Besetzung zu retten.
Viele Russen und Ukrainer haben enge Familienbeziehungen im jeweils anderen Land. Ein Russe hat vielleicht Töchter und Enkelkinder, die in Kiew leben; ein Ukrainer hat vielleicht Kinder, die in Moskau leben und arbeiten. Heute durchdringen Schmerz, Angst und tiefe Sorge um ihre Angehörigen und um die Zukunft ihres eigenen Lebens und Landes die Herzen vieler Menschen wie Blitze, denn seit dem Zweiten Weltkrieg weiss niemand mehr, wo die Grenzen des Krieges und seiner Folgen liegen könnten.
Heute sterben Soldaten auf der einen und auf der anderen Seite. Friedliche Gefühle werden durch Bombardements und Granaten zerstört, und ein Strom verstärkter Aufmerksamkeit strömt in Form von Flüchtlingen über Europa: Frauen, alte Menschen und Kinder.
All diese Ereignisse rufen in mir tiefe Trauer, Bitterkeit und Bedauern über die von der Führung meines Landes getroffenen Entscheidungen hervor, und ich empfinde grosses Mitgefühl für diejenigen, die unter dieser Entscheidung leiden.
Alles, was ich tun konnte, um einen Krieg zu verhindern, habe ich getan, um diese militärische Invasion zu stoppen:
- In meiner Eigenschaft als Generalsekretär der Russischen Evangelischen Allianz schrieb ich am Tag vor dem Einmarsch einen offenen Brief an Präsident Wladimir Putin, in dem ich die Bitte der religiösen Führer der Ukraine um eine friedliche Lösung des Konflikts unterstützte.
- Wir initiierten Fasten und Gebet für Frieden und Harmonie zwischen Russland und der Ukraine.
- Unsere Allianz beteiligte sich an öffentlichen Gebeten an der Seite russischer, ukrainischer und europäischer Führer für die Versöhnung aller Parteien.
- Die Russische Evangelische Allianz leistete humanitäre Hilfe für mehr als 500 Flüchtlinge aus der Ukraine, die in Südrussland stationiert sind.
- Wir initiierten einen Runden Tisch und eine anschliessende internationale Konferenz zum Thema militärische und politische Konflikte.
Heute entschuldige ich mich als Bürger und Generalsekretär der Russischen Evangelischen Allianz bei all denjenigen, die unter diesem militärischen Konflikt gelitten, Angehörige und Verwandte verloren oder ihren Wohnsitz verloren haben. Ich bete, dass Sie vom Herrn die Kraft finden, Ihre Hand der Solidarität und Vergebung auszustrecken, damit wir als Volk Gottes in unserer Welt leben können.
Möge unser himmlischer Vater uns allen helfen.
Mit tiefem Respekt, Ihr Bruder im Herrn,
Vitaly Vlasenko
Über Vlasenko:
Dr. Vitaly Vlasenko ist Theologe und Wirtschaftswissenschaftler. Von 1995 bis 2007 war er Direktor von Campus für Christus in Russland, 2005 bis 2012 Präsident des Rates der Christlichen Evangelischen Kirchen Russlands und 2005 bis 2014 Präsident des Russischen Nationalen Gebetsfrühstücks. 2007 bis 2016 diente er als Co-Vorsitzender des christlichen interreligiösen Beratungsausschusses der GUS-Länder und 2007 bis 2017 war er Leiter der Abteilung für kirchliche Aussenbeziehungen der Russischen Union der Baptisten. Seit 2011 dient er als Pastor der Moskauer City Church. Vitaly Vlasenko ist verheiratet mit Yana Vlasenko und hat drei Kinder.
Quelle: APD vom 17. März 2022