Der europäische Liberalismus, dem wir die Entfaltung der Menschenrechtsidee verdanken, wurzelt im christlichen Glauben. Doch heute untergräbt der Liberalismus sein eigenes Fundament. Der Mensch ist nur dort Subjekt, und nicht bloss Objekt von Rechten, wo seine vom Schöpfer verbürgte Würde bedingungslos anerkannt wird.
Von Dominik Lusser
Der Liberalismus verliert seine eigene Grundlage, wenn er Gott auslässt. So lautet die Kernthese eines bisher unveröffentlichten Aufsatzes von Papst Benedikt XVI. aus dem Jahre 2014, der in diesen Tagen im Sammelband „Die Freiheit befreien – Glaube und Politik im dritten Jahrtausend“ im Herder-Verlag erscheint. Der Beitrag enthält wertvolle Gedankenanstösse zum Verhältnis von Liberalismus, Menschenrechten, Wahrheit und der Frage nach Gott. Joseph Ratzingers Ausführungen unter dem Titel „Die Multiplikation der Rechte und die Zerstörung des Rechtsbegriffs“ sind eine Antwort auf das Buch des italienischen Philosophen und Politikers Marcello Pera „Kirche, Menschenrechte und die Abkehr von Gott“.
Christliche Wurzeln des Liberalismus
Wie Benedikt XVI. über bzw. an Pera schreibt, habe dieser in seinem jüngsten Buch seine Sicht auf die Geschichte des Liberalismus geändert: „Mir kommt vor, dass Sie in Ihrem Buch ‚Perché dobbiamo dirci cristiani’ (2008) den Gottesgedanken der grossen Liberalen anders werten als in Ihrem neuen Werk. In Ihrem neuen Opus erscheint er schon wesentlich als ein Schritt auf den Verlust des Glaubens an Gott hin.“ In seinem ersten Buch hingegen hätte Pera, wie Benedikt XVI. festhält, überzeugend dargestellt, dass der europäische Liberalismus ohne den Gottesgedanken unverständlich und unlogisch sei. „Für die Väter des Liberalismus war Gott noch Grundlage ihrer Sicht von Welt und Mensch, so dass nach diesem Buch die Logik des Liberalismus gerade das Bekenntnis zu dem Gott des christlichen Glaubens notwendig macht.“
Indem Benedikt XVI. beide Sichtweisen Peras für begründbar hält, geht er von einer Ambivalenz in der Geschichte des europäischen Liberalismus aus: „Ich verstehe, dass beide Wertungen begründet sind. Einerseits löst sich im Liberalismus der Gottesbegriff von seinen biblischen Grundlagen und verliert so langsam seine konkrete Kraft. Andererseits bleibt Gott für die grossen Liberalen doch noch unverzichtbar. Man kann die eine oder andere Seite des Vorgangs stärker betonen. Ich denke, man muss sie beide nennen. Aber die Vision Ihres ersten Buches bleibt für mich unverzichtbar, dass nämlich der Liberalismus seine eigene Grundlage verliert, wenn er Gott auslässt“.
Nach Benedikts Einschätzung ist in der biblischen Lehre von der Gottebenbildlichkeit des Menschen in der Sache enthalten, was Kant ausgedrückt hat, wenn er den Menschen als Zweck und nicht als Mittel bezeichnet: „Man könnte auch sagen, es sei enthalten, dass der Mensch Rechtssubjekt und nicht nur Rechtsobjekt ist.“ In Genesis 9,5 f komme dieser elementare Grundbestand der Menschenrechtsidee deutlich zum Ausdruck: „Für das Leben des Menschen fordere ich Rechenschaft von jedem seiner Brüder. Wer Menschenblut vergiesst, dessen Blut wird durch Menschen vergossen. Denn: Als Abbild Gottes hat er den Menschen gemacht.“ Die Gottebenbildlichkeit des Menschen schliesst laut Benedikt XVI. ein, dass des Menschen Leben unter dem besonderen Schutz Gottes steht – „dass er vor menschlichen Rechtssetzungen Träger eines von Gott selbst gesetzten Rechtes ist“.
Folgt aus dem Sein ein Sollen?
Benedikts Ausführungen sind von hoher Aktualität überall dort, wo von Menschenrechten die Rede ist. „Als Menschenrechte gelten diejenigen Rechte, die jedem Menschen auf Grund seines Menschseins (…) zukommen“, heisst es in der 2016 vom Eidgenössischen Departement für auswärtige Angelegenheiten EDA herausgegebene Broschüre „ABC der Menschenrechte“. Mit erstaunlicher Selbstverständlichkeit wird dort festgehalten, dass der Ursprung des Menschenrechtskonzepts in der griechischen Philosophie der Antike und in der Religion zu suchen sei. Zusammen mit der Tradition des säkularen Naturrechts („d.h. Menschenrechte gründen in der Natur des Menschen und in seiner unverwechselbaren Würde“) habe sich dieses Konzept als zeitüberschreitende Grösse entfaltet:
„Gemäss den naturrechtlichen Lehren haben grundlegende Menschenrechte vorstaatliche Geltung, sind in ihrem Bestand also nicht von der Gewährleistung einer nationalen Verfassung abhängig. Insofern ist jeder Staat, der sich eine Verfassung gibt, bzw. eine bestehende Verfassung ändert, an die Menschenrechte gebunden. Weder darf sie der Staat verweigern oder entziehen, noch kann der oder die Einzelne freiwillig oder unter Zwang auf sie verzichten.“
Dass diese Zeilen für die Schweizer Politik nur noch abstrakte Theorie sind, die immer mehr an praktischer Gültigkeit verliert, zeigt nicht nur die seit Jahren straffrei mögliche Tötung ungeborener Kinder oder das lasche Strafrecht in Sachen Pornografie, die den Menschen zum Objekt der Lustbefriedigung erniedrigt. Auch das Gewährenlassen von Organisationen, die alten und kranken Menschen bei der Selbsttötung assistieren, ist mit der unveräusserlichen Würde des Menschen nicht vereinbar. Gleiches gilt für die rechtliche Anerkennung einer „Elternschaft“, die durch Indienstnahme einer Leihmutter im Ausland zu Stande kam und somit mit Mutter und Kind gleich zwei Personen zur Ware macht.
Dieser Umgang des Menschen mit sich selbst oder seinesgleichen aber hat offensichtlich sehr viel mit der Gottesfrage zu tun, wie Benedikt XVI. betont. „Das Drama des Streits um das Naturrecht zeigt deutlich, dass die metaphysische Rationalität, die hier vorausgesetzt wird, nicht ohne weiteres einleuchtet: „Mir scheint, dass der späte Kelsen recht hatte, wenn er sagte, die Ableitung eines Sollens aus dem Sein sei nur dann vernünftig, wenn ein Jemand im Sein ein Sollen hinterlegt hat.“
Befreiende Wahrheit
Der polnische Papst Johannes Paul II., der den Menschenrechten im Lehramt der katholischen Kirche erstmals einen besonders hohen Stellenwert gab, tat dies nach Benedikts Einschätzung besonders aus seiner konkreten kommunistischen Erfahrung heraus: „Gegenüber dem Totalitätsanspruch des marxistischen Staates und seiner ihn gründenden Ideologie sah er als die konkrete Waffe den Gedanken der Menschenrechte an, der die Totalität des Staates begrenzt und damit den nötigen Freiraum nicht nur für persönliches Denken, sondern vor allem auch für den Glauben der Christen und die Rechte der Kirche bietet.“ Dabei habe Johannes Paul II. sein Engagement für die Menschenrechte in Kontinuität mit der Haltung der alten Kirche dem römischen Staat gegenüber verstanden.
Der Eintritt des Christentums in die Weltgeschichte habe, so Benedikt XVI., zunächst ein neues Verständnis von Religion gebracht: „Eine Religion mit Universalitätsanspruch gab es bis dahin nicht. Die Religion war ein wesentlicher Teil der Identität der jeweiligen Gesellschaft.“ Der Auftrag Jesu hätte unmittelbar nicht das Verlangen nach einer Änderung in der Struktur der einzelnen Gesellschaften bedeutet, wohl aber gefordert, „dass in allen Gesellschaften die Möglichkeit offen bleibt, seine Botschaft anzuerkennen und nach ihr zu leben.“
Religion ist somit nicht mehr „Ritus und Observanz, die letztlich die Identität des Staates garantiert“, sondern „vielmehr Erkenntnis (Glaube), und zwar Erkenntnis von Wahrheit.“ Diese Verbindung von Religion und Wahrheit schliesse, so Benedikt XVI., ein Freiheitsrecht ein, das man in einer inneren Kontinuität mit dem wahren Kern der Menschenrechtslehre sehen dürfe, wie Johannes Paul II. es offensichtlich getan habe.
Der christliche Glaube, der eine universale Religion für alle Menschen verkündet, schloss nämlich „notwendig eine grundsätzliche Begrenzung der Staatsautorität durch Recht und Pflicht des einzelnen Gewissens ein.“ Dabei sei zwar nicht der Gedanke von Menschenrechten formuliert worden. Vielmehr sei es darum gegangen, den Gehorsam des Menschen Gott gegenüber als Grenze dem Staatsgehorsam entgegenzustellen. Andererseits scheint es aber, wie Benedikt schreibt, „nicht unberechtigt (…), die Gehorsamspflicht des Menschen Gott gegenüber als Recht dem Staat gegenüber zu formulieren, und insofern war es wohl durchaus logisch, wenn Johannes Paul II. in der christlichen Relativierung des Staates für die Freiheit des Gehorsams Gott gegenüber ein Menschenrecht ausgedrückt fand, das jeder staatlichen Autorität voraus liegt.“
Damit ist aber auch ausgesagt, dass die biblisch begründete Freiheit des Menschen nicht absolut gesetzt oder als willkürlich verstanden werden kann, wie dies heute unter dem Banner des Liberalismus gang und gäbe geworden ist. Vielmehr steht die biblisch begründete Freiheit in einem Bezug zur Wahrheitsfähigkeit des Menschen, welche die Erkenntnis der Natur ebenso wie des Übernatürlichen (durch den Glauben) einschliesst. Benedikt XVI. führt dazu aus: „Da der menschliche Geist auf die Wahrheit hin geschaffen ist, ist es klar, dass Wahrheit verpflichtet, aber nicht im Sinn einer positivistischen Pflichtethik, sondern von ihrem Wesen her und dass sie gerade so den Menschen frei macht.“
„Frei“ von Gott?
Was hingegen geschieht, wenn der Mensch die Wahrheit über sich selbst ignoriert und den Begriff der Menschenrechte vom Gottesbegriff ablöst, der die Idee der Menschenrechte gleichzeitig „begründet und begrenzt, hat gemäss Benedikt XVI. Pera in seinem Buch eindringlich und überzeugend dargestellt: „Die Multiplikation der Rechte führt letzten Endes zur Zerstörung des Rechtsbegriffs und endet in einem nihilistischen ‚Recht‘ des Menschen, sich selbst zu verneinen – Abtreibung, Suizid, Produktion des Menschen als Sache werden zu Rechten des Menschen, die ihn zugleich verneinen.“
So werde im Buch des italienischen Philosophen überzeugend klar, dass der vom Gottesbegriff getrennte Begriff der Menschenrechte letzten Endes nicht nur zur Marginalisierung des Christentums, sondern letztlich zu seiner Negation führe. „Dieses nach meinem Dafürhalten eigentliche Anliegen Ihres Buches ist angesichts der gegenwärtigen geistigen Entwicklung des Westens, der immer mehr seine christliche Grundlage negiert und sich gegen sie kehrt, von hoher Bedeutung.“
Liberalismus – quo vadis?