Nie endende Liebe ist die grosse Sehnsucht der Menschen. „Love never ends“ lautet das Motto der diesjährigen Zürcher Techno-Party „Street Parade“. Alles nur trügerische Illusion? „Opium für das Volk“? Oder steckt doch mehr dahinter?
Von Dominik Lusser
Die gigantische Techno-Party „Street Parade“ wird am 12. August 2017 wieder bis zu einer Million Menschen ans Zürcher Seebecken locken, um dort ausgelassen zu tanzen und zu feiern. Der Mega-Anlass „Street Parade“ versteht sich als Demo für die Werte Liebe, Friede, Freiheit und Toleranz. Das Motto 2017 solle „darauf aufmerksam machen, dass im Leben vieles vergänglich ist, aber die Werte der Street Parade dauerhaft präsent bleiben“, erklärte Stefan Epli, Sprecher des Vereins „Street Parade“, gegenüber den Medien.
Dass die Liebe, vor allem auch das Geliebt-werden, nie enden möge, ist eine tief im Menschen verankerte Sehnsucht. Liebe verlangt nach Ewigkeit, weil Liebende niemals voneinander getrennt werden wollen. Auch in der Bibel findet diese Sehnsucht nach der nie endenden Liebe ihren Wiederhall. Paulus etwa schreibt in seinem „Hohelied der Liebe“ im ersten Brief an die Korinther (13,8): „Die Liebe hört niemals auf“. In englischen Bibelübersetzungen findet man an dieser Stelle den exakten Wortlaut des „Street Parade“-Mottos: „Love never ends“.
Illusion Liebe?
Doch ist dieser Slogan überhaupt realistisch? Und wenn ja, in welchem Sinn? Für Stefan Epli meint das Motto – wenn ich seine Aussage richtig verstehe –, dass die Liebe als Wert, als Ideal Bestand hat, während sonst vieles im Leben – oder gar alles? – der Vergänglichkeit unterworfen ist. Die Liebe zu den Idealen der „Street Parade“ werde nie enden, heisst es denn auch auf der Homepage des Veranstalters. Die Liebe als Wert hochzuhalten ist wichtig, ja ganz zentral. Aber eine Antwort auf die tiefste Sehnsucht des Menschen, auch der Hundertausenden liebessüchtigen Teilnehmer der „Street Parade“, ist das nicht.
Wie wenig tröstet es einen Menschen, dessen Liebe zerbrochen ist, der einen geliebten Menschen zu Grabe tragen musste, zu hören, dass die Liebe als Idee, als abstrakte Theorie noch immer „präsent“ ist? Der französische Philosoph Gabriel Marcel, ein christlicher Existentialist, hat einmal gesagt: „Einen Menschen lieben, heisst sagen, du wirst nicht sterben.“ Dieser Satz spricht aus, was alle Liebenden spüren und hoffen. Man könnte daraus durchaus den Schluss ziehen, dass „Liebe“ also etwas meint, was es im menschlichen Leben nicht gibt, ja prinzipiell nicht geben kann. Bleibt also Liebe immer nur ein verzweifelter Versuch, und müssen wir uns damit begnügen, dass sie nur als Idee niemals endet?
Nicht notwendigerweise, glauben die Christen. „Love never ends“ drückt für sie nicht nur eine Sehnsucht aus, sondern eine Antwort. Die Liebe sei „stärker als der Tod“, heisst es in jenem Buch aus dem Alten Testament, das die Christen – ebenso wie die zitierte Passage aus dem ersten Korintherbrief – als Ganzes ebenfalls „Hohelied der Liebe“ nennen: Damit ist eine göttliche Zusage ausgesprochen, auf deren Sichtbarwerdung die Christen hoffen. So wie Jesus, der Sohn Gottes, durch seine Auferstehung den Tod überwunden habe, so werde jedem Menschen, der an ihn glaube, ewiges Leben und somit die ewige Liebe Gottes zuteil. Damit ist auch die Hoffnung auf ein Wiedersehen mit den Menschen verbunden, die wir auf Erden geliebt haben.
Ekstasen
Liebe soll also, wie die Christen sagen, nicht bloss als abstrakte Idee, sondern als existentielle Erfahrung Ewigkeit haben. Eine entzückende Idee, wenn man an ihre Realisierung glauben kann – vielleicht auch eine Idee, von der viele Teilnehmer der „Street Parade“, sofern sie nicht selbst glauben, nur zu träumen wagen. Und doch: die Sehnsucht nach maximalem Glück, nach der Erfüllung aller Sehnsüchte, ist an der Street Parade, wie an jedem Fest, jedes Jahr spürbar. Dabei tritt der ideelle Hintergrund schnell in den Hintergrund. Alles dreht sich ums konkrete Erleben.
Hunderttausende Raver drängen sich jährlich an einem Samstag im heissen August in die Zürcher Innenstadt. Zu den stampfenden Beats tanzen sie sich in Ekstase. Doch was mögen die Gründe sein, wieso das bunte Fest bisweilen in tragische Exzesse ausartet? Für viele reicht der berauschende Sound nicht. Sie greifen zu Drogen aller Art. Dealer verbuchen jeweils den Ansturm des Jahres. 2014 wurden allein von der Partydroge Ecstasy 4,1 Kilogramm konsumiert. Was suchen diese Menschen wohl? Nur ein kleines, wenn auch gefährliches Abenteuer? Einen kleinen Exzess, um den alltäglichen Berufsstress zu kompensieren, und der schliesslich zu jedem Fest irgendwie dazugehört? Auf viele mag das hoffentlich zutreffen, auf andere kaum. Dient ihnen die Droge vielleicht zu einem, wenn auch vergeblichen Fluchtversuch aus einem schwierigen, ja unerträglichen Alltag? Und warum ist ihnen dieser Alltag so unerträglich? Suchen sie Trost wegen einer zerbrochenen Liebe, oder gar wegen der Absurdität ihrer Existenz, die – wie sie glauben – keinen Sinn (mehr) hat?
„Es herrscht das Absurde, und die Liebe rettet davor“, schrieb Albert Camus, ein weiterer französischer Existentialist, der sich als Agnostiker bezeichnete. Absurdität ist für Camus die Grunderfahrung menschlicher Existenz. Einzig die Liebe kann davor retten. Wenn sie aber keine Ewigkeit hat, hat dann nicht letztendlich doch die Absurdität das letzte Wort? Camus Antwort auf diese Frage ist nicht eindeutig.
Wahre Ekstase, die keine Flucht aus der Realität sein will, setzt Liebe voraus. Liebende finden sich hinreissend, sind ganz ausser sich ob der Schönheit des Geliebten, sind entzückt. Auch die christliche Theologie kennt die Ekstase. Sie meint dort eine Erfahrung der ewigen Liebe Gottes, in die wir als Erdenbewohner zwar noch nicht ganz eingegangen sind, die aber auf verborgene Weise als uns tragender Grund immer anwesend ist, auch inmitten eines bedrückenden Alltags. Von solchen Erfahrungen her, die verschiedene Formen annehmen und viele Namen haben können, z.B. Schau, Ruhen im Geist, Kommunion, mag es leichter fallen, der unleugbaren Last des Alltags, die einen schon manchmal an die sinnlose Existenz des mythologischen Sisyphos erinnern kann, einen Sinn zu geben.
Auch die tiefe Erfahrung menschlicher Liebe hat die Kraft, mein Verhältnis zur Welt im Ganzen zu verändern. So hat Robert Spaemann einmal gesagt: „Lieben heisst, erfahren, dass das Leben selbst der Grund des Glücks ist und dass es keines weiteren Grundes bedarf.“
Fühlt sich jemand hingegen vom Leben hoffnungslos betrogen, ist es nicht verwunderlich, wenn er Zuflucht sucht zu künstlicher Ekstase, zu Drogen, die eine vorübergehende Illusion von Ewigkeit und wahrem Liebesglück erzeugen.
Feierstimmung?
Jean-Paul Sartre, der wohl bekannteste französische Existentialist, war Atheist. Er beschrieb den Ekel als menschliche Grunderfahrung. So kam er zu dem nicht weiter verwunderlichen Schluss, dass „unser ganzes Dasein etwas ist, was besser nicht wäre.“ Wer wie Sartre glaubt, philosophisch zu einer so verzweifelten Einschätzung des Lebens gelangen zu müssen, ist – so meine ich – gar nicht in der Lage, ein Fest, eine Party, eine „Street Parade“ zu feiern, d.h. wirklich festlich zu begehen. Denn ein Fest zu feiern bedeutet doch nicht zuletzt – da würde wohl jeder zustimmen – sich einen guten Tag zu machen? Wie aber sollte es in einem Leben, das besser nicht wäre, einen wirklich guten Tag überhaupt geben können?
Zum Glück gibt es im Leben der Menschen viel Inkonsequenz. Nicht jeder, der nicht an das Übernatürlich glaubt, durchdenkt seine Existenz, ihren Sinn oder Unsinn, mit der philosophischen Stringenz eines Jean-Paul Sartre. Geschweige denn, dass er aus seinen Ansichten alle Konsequenzen zieht. Ja selbst Sartre, der nicht nur ein atheistisch-marxistischer Philosoph, sondern auch ein grosser Dichter war, blieb – worauf Josef Pieper in seinem wunderbaren Traktat „Über die Liebe“ aufmerksam macht – die befreiende Macht nicht verborgen, welche die Liebe auf die Existenz des Menschen haben kann: An einer Stelle sagt der Dichter Sartre, völlig unbekümmert um die eigene Philosophie: „Dies ist in der Freude der Liebe der Kern: wir fühlen uns darin gerechtfertigt, da zu sein.“
Zustimmung zur Welt
Und so spielt uns Menschen, in welch verzweifelter Lage wir auch sein mögen, immer wieder jene unstillbare Sehnsucht einen Streich, es möge diese Liebe, die niemals endet, doch geben. Unentwegt suchen wir nach ihr, halten nach ihr Ausschau. Sie ist wie ein Motor, der uns am Leben hält. Selbst in den billigsten Fiktionen und Surrogaten wahren Glücks ist die durch nichts auszulöschende Suche des Menschen nach ewiger Liebe bzw. ewigem Glück noch präsent. Zu Ende gedacht aber lässt sich mit grosser Sicherheit Folgendes sagen: Gilt das „Ja“, das sich in der fröhlichen Stimmung eines jeden Festes zum Ausdruck bringt, nur dem Moment der Flucht aus der eigenen Existenz, und nicht dieser selbst, so ist es nicht echt. Jedenfalls ergreift die Freude, wenn in ihrem „Ja“ nicht auch der Alltag mitgemeint ist, nicht die ganze menschliche Existenz. Freude herrscht dann nur mit Vorbehalt.
Vor diesem Hintergrund scheint es geradezu paradox, dass Karl Marx ausgerechnet die Religion als „Opium für das Volk“ bezeichnet hat. Das Christentum würde die Menschen hindern, sich ihres Elends bewusst zu werden. Eine Religion, die aufs Jenseits vertröste, bringe die Menschen um die Energie, sich für ein besseres Diesseits einzusetzen. Die vielen sozialen Errungenschaften, welche die Menschheit der Geschichte des Christentums verdankt, zeigen freilich etwas anderes. Vielleicht haben ja gerade gläubige Menschen eine ganz besondere Motivation, ihren Blick auch dann nicht von der Welt abzuwenden, wenn rund herum alles zusammenzubrechen scheint?
Die entscheidende Frage lautet meiner Meinung nach: Ist es überhaupt menschenmöglich, diese Welt und unser Leben in dieser Welt in seiner ganzen Ambivalenz auszuhalten und anzunehmen, und von Zeit zu Zeit auch in einem Fest zu feiern, wenn es nicht eine konkret erfahrbare Liebe gibt, die stärker ist als der Tod? Ich glaube an diese Liebe: Love never ends!